Düsseldorf. NRW-Gesundheitsminister Laumann erwägt, den Kreis der Opfer des Bottroper Apotheken-Skandals doch weiter zu ziehen.
Es ist ein meterlanges Plakat aus LKW-Plane, das am Mittwochmittag auf dem Bürgersteig vor dem Düsseldorfer Gesundheitsministerium entrollt wird. Fast 3800 Namen stehen darauf. Krebspatientinnen und -patienten, die zwischen 2012 und 2016 in der „Alten Apotheke“ in Bottrop mutmaßlich gepanschte Medikamente erhalten haben.
Der Skandal hatte bundesweit Entsetzen ausgelöst. Das Landgericht Essen hat den skrupellosen Apotheker Peter S., der sich über Jahre an unterdosierten Krebstherapien bereichert hat, bereits 2018 zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Doch der Streit darüber, wie das Land politisch mit seiner Verantwortung für eine lange Zeit sehr laxe Apotheken-Aufsicht umgeht und wie die Opfer entschädigt werden sollen, schwelt weiter.
Renate Okrent steht vor dem Gesundheitsministerium und wirkt aufrichtig enttäuscht. „Ich habe Herrn Laumann immer für einen Menschen des Volkes gehalten und gedacht, bei ihm bin ich richtig“, sagt die 64-jährige Bottroperin betrübt. Sie hat 2015 vier Chemotherapien aus der „Alten Apotheke“ bekommen und beim Prozess gegen Peter S. als Nebenklägerin jeden der 44 Verhandlungstage miterlebt. Eine Entschädigung des Landes ist für sie bislang nicht vorgesehen.
Das Land stützt sich auf das Gerichtsurteil gegen Apotheker Peter S.
„Herr Laumann“, also Nordrhein-Westfalens Gesundheits- und Sozialminister Karl-Josef Laumann (CDU), hat sich in den vergangenen Jahren zweifellos um den Bottroper Skandal gekümmert. Die Apotheken-Aufsicht wurde seit 2017 deutlich verschärft, und der Minister setzte sich persönlich Ende 2021 beim Landtag dafür ein, dass zumindest 10 Millionen Euro für einen Hilfsfonds bereitgestellt werden. Daraus soll Opfern eine freiwillige „Billigkeitsleistung“ von 5000 Euro gezahlt werden.
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Das Problem: Es lässt sich aus Sicht des Landes nicht so leicht eingrenzen, wer nachweislich Opfer des Bottroper Apothekers wurde. Die Krebsmedikamente wurden offenbar über Jahre - und womöglich nicht nur im strafrechtlich untersuchten Zeitraum zwischen 2012 und 2016 - nach Belieben gestreckt, ohne dass darüber Buch geführt worden wäre. Es war eine Art „russisches Roulette“ mit lebenswichtigen Arzneien. Individuelle Schäden lassen sich schwer nachweisen.
Also verfiel Laumanns Ministerialverwaltung auf die Idee, nur jene rund 2000 Patienten als anspruchsberechtigt bei der „Billigkeitsleistung“ des Landes anzusehen, die zweifelsfrei unterdosierte Therapien bekommen hatten und deren Fälle vom Landgericht zur Verurteilung von Peter S. herangezogen wurden. Das hat bei den weiteren rund 1700 Krebspatienten, die zwischen 2012 und 2016 ebenfalls in der Bottroper Apotheker Präparate bekamen, Wut und Enttäuschung ausgelöst.
"Wir fühlen uns als Opfer zweiter Klasse"
Eine von ihnen ist Renate Okrent. „Wir fühlen uns als Opfer zweiter Klasse“, sagt sie. Es gehe ihr um Anerkennung ihres Leids. Aber auch schlicht um zumindest 5000 Euro Entschädigung. Mit zwei Dutzend weiteren Betroffenen ist sie am Mittwoch nach Düsseldorf gekommen, um noch einmal mit Laumann zu reden. Zwei Polizeiwagen sind schnell vor der Ministeriumspforte zur Stelle. Doch Laumann lässt sich nicht lange bitten und die Leute allesamt ins Haus holen. „Muss ich den Minister gar nicht auffordern?“, fragt eine Frau mit Megafon in der Hand.
„Ich bin jetzt 30 Jahre in der Politik. Was da passiert ist, ist eines der gemeinsten Verbrechen, das es gibt“, stellt Laumann gleich klar. Er legt zwar Wert darauf, dass seine Kriterien für die Auszahlung der Entschädigung „nicht völlig neben der Kappe“ seien. Aber er lässt sich auf das Gespräch ein, ohne sich hinter juristischen Formeln zu verschanzen. Als ihm wieder und wieder erklärt wird, dass die Wirtschaftskammer des Landgerichts Essen seinerzeit nur aus prozessökonomischen Gründen ihr Urteil gegen den Bottroper Apotheker bloß auf 2000 Patienten abgestellt habe, ohne damit eine Aussage über den Opferstatus der weiteren 1700 getroffen zu haben, gerät der Minister ins Nachdenken. Er nickt und atmet schwer.
Laumann will noch einmal nach gerechteren Kriterien suchen lassen
„Ich mache hier keine Basta-Politik“, sagte er schließlich. Soll man alle Krebspatienten der Bottroper Apotheke entschädigen? Oder nur die ab 2012? Oder nur die Nebenklägerinnen? „Die Torte habe ich immer im Gesicht“, ahnt Laumann. Womöglich werden aber die 10 Millionen Euro ohnehin nicht vollständig abgerufen, weil die Ermittlung der bislang 2000 Anspruchsberechtigten schleppend laufe. Wenn es gerechtere Kriterien für die Entschädigungszahlung gebe, „gucken wir uns das noch mal an“, verspricht Laumann. Nicht irgendwann und keine lange Bank, versichert er. „Geben Sie uns mal vier Wochen Zeit zum Denken.“
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