Essen. Sollten 16-Jährige den NRW-Landtag mitwählen, wie von Schwarz-Grün geplant? Befürworter halten das für überfällig, Skeptiker für populistisch.

Wer 16 Jahre alt ist, soll nach dem Willen der neuen NRW-Landesregierung künftig auch bei Landtagswahlen mitabstimmen dürfen. So steht es im Koalitionsvertrag - ein Erfolg für die Grünen, die seit Jahren vehement für eine früheres Wahlalter einstehen und die Blockadehaltung der CDU auflösen konnten. Doch längst nicht überall sorgt das für Jubelstürme.

Wie ist die Ausgangslage?

In den meisten Bundesländern dürfen 16- und 17-Jährige bereits auf kommunaler Ebene mitwählen. 1996 senkte Niedersachsen als ersten Bundesland das Wahlalter, NRW zog 1998 nach. Nur in Bayern, Hessen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und im Saarland muss man 18 Jahre alt sein. Bei Landtagswahlen haben 16-Jährige in Brandenburg, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein ein Stimmrecht. Überall gibt: Wer für Stadtrat oder Landtag kandidieren will (passives Wahlrecht), muss volljährig sein.

Auf Bundesebene will die Ampelkoalition ebenfalls das Wahlalter auf 16 senken, eine Reformkommission befasst sich mit dem Thema. Dagegen stemmt sich die CDU und mit ihr die AfD.

Wie lief die Diskussion bislang in NRW?

In NRW ist zuletzt 2020 ein SPD-Gesetzesentwurf zum Wählen ab 16 von den damaligen Regierungsfraktionen CDU und FDP sowie von der AfD abgeschmettert worden. Eine Enquetekommission sprach sich ein Jahr später dennoch dafür aus.

Um welche Gruppe geht es?

Bei der diesjährigen Landtagswahl gab es knapp 13 Millionen Wahlberechtigte. Wird das Wahlalter abgesenkt, betrifft das nach Angaben des Innenministeriums schätzungsweise 275.000 deutsche Staatsangehörige, die bei den Landtagswahlen 2027 16 oder 17 Jahre alt sind.

Welche Folgen hätte das für die Parteien?

Junge Menschen wählen eher links. Aus der NRW-Juniorwahl etwa, an der sich rund 150.000 Schülerinnen und Schüler kurz vor der Landtagswahl freiwillig beteiligt haben, ist die SPD mit über 22,6 Prozent als Siegerin herausgegangen, gefolgt von den Grünen (18) und der CDU (17,2).

Frank Decker, Politikwissenschaftler der Uni Bonn, geht allerdings nicht davon aus, dass eine Absenkung des Wahlalters spürbare politische Effekte hat. „Die Gruppe der 16- und 17-Jährigen machen zwei Prozent der Wahlberechtigten aus. Da wird es keine Kräfteverschiebung geben“, sagt Decker.

Robert Vehrkamp, Politikforscher bei der Bertelsmann-Stiftung.
Robert Vehrkamp, Politikforscher bei der Bertelsmann-Stiftung. © dpa | Fabian Sommer

Robert Vehrkamp, Mitglied in der Bundeskommission zur Wahlrechtsreform, sieht das in einem Aspekt anders: Wählen ab 16 könnte zu einem Modernisierungsschub der Parteien führen, meint der Fachmann der Bertelsmann-Stiftung. „Die Parteien werden lernen müssen, neue Zielgruppen zu erreichen“, sagt Vehrkamp. Junge Menschen erreiche man nicht mit Plakaten oder Ständen auf Marktplätzen.

Würde die Wahlbeteiligung steigen?

Langfristig schon, meint der Bonner Politologe Frank Decker: 16- und 17-Jährige seien sehr gut über die Schulen und Berufsschulen zu erreichen. Im Unterricht könne ihr Demokratie-Wissen gefördert und sie so besser auf ihr Wahlrecht vorbereitet werden. „Studien zeigen, dass junge Menschen, die an ihrer ersten Wahl teilgenommen haben, eher auch künftig zu Wahlen gehen“, so Decker. Das werde sich besonders bei sozial benachteiligten Kindern zeigen, in deren Umfeld die Wahlbeteiligung seit Jahren rückläufig ist.

Bernd Grzeszick sieht das anders: Der Landesverfassungsrichter verweist auf Untersuchungen aus Österreich, wo sogar auf Bundesebene das Wahlalter auf 16 Jahren abgesenkt worden ist. „Die Wahlbeteiligung bei jungen Menschen ist trotzdem unterdurchschnittlich geblieben und sie steigt in den nächsten Altersgruppen auch nicht deutlich an“, sagt Grzeszick. Auch gingen Kinder aus sozial besser gestellten Haushalten eher zur Wahl.

Sind junge Menschen denn politisch interessiert?

Vehnkamp hält diese Frage für irrelevant. „Einem 50-Jährigen, der keine Zeitung liest und nicht weiß, wie der Kanzlerkandidat heißt, würde man sein Wahlrecht ja auch nicht aberkennen“, sagt der Fachmann der Bertelsmann-Stiftung. An junge Menschen würden Maßstäbe angelegt, die keine andere Gruppe erfüllen müsse. „Die Debatte muss umgekehrt geführt werden: Politische Beteiligung ist ein Menschenrecht und das Wahlrecht ist ihr Herzstück. Wer das jemandem verwehrt, braucht gute Gründe, nicht umgekehrt.“

Ähnlich sieht es Konstantin Achinger, Chef der SPD-Nachwuchsorganisation Jusos NRW. „Junge Menschen haben ein großes politisches Interesse, aber sie finden ihre Antworten häufig nicht bei den Parteien“, stellt er fest. Parteien müssten sich ändern und besser erklären müssen, wofür sie stehen und was sie wollen. „Auch für die SPD ist das sicher kein Selbstläufer.“

Hinweise auf das landespolitische Interesse gibt eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung, die zur Landtagswahl in Brandenburg 16- und 17-Jährige befragt hat. Ihre Grundeinstellungen liegen demnach auf einem ähnlichen Niveau wie bei älteren jungen Menschen - an Reife fehle es nicht. Aber: Die Wahlbeteiligung lag mit 58 Prozent unter der aller Wahlberechtigten (61,3).

Johannes Winkel ist der Landesvorsitzende der Jungen Union in NRW.
Johannes Winkel ist der Landesvorsitzende der Jungen Union in NRW. © FFS | Michael Gottschalk

Jubeln die Nachwuchsorganisationen der Parteien?

Nicht alle. Johannes Winkel, Landesvorsitzender der Jungen Union, gibt sich eher zurückhaltend mit dem Richtungswechsel seiner Partei, die noch 2020 das Wahlrecht ab 16 abgelehnt hat. „Das 16-Jährige über die politische Entwicklung eine ganzen Landes mitentscheiden sollen, aber man ihnen nicht zutraut, einen Mietvertrag zu unterzeichnen, ist schräg.“ Nötig sei eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber, wann junge Menschen welche Rechten und Pflichten erhalten. Nur das Wahlrecht herauszugreifen, nennt er „eine populistisch Position der Grünen“.

Tatsächlich gibt es einen Flickenteppich an Mündigkeitsaltern auf Bundesebene: Religionsmündig ist man mit 14 Jahren, vertragsfähig mit 18, das Jugendstrafrecht gilt zum Teil bis zum 21. Lebensjahr. Als Mitglied der Bundeskommission zur Wahlrechtsreform sieht Grzeszick darin aber keinen Hindernisgrund. „Der Gesetzgeber hat einen gewissen Spielraum, um das Wahlalter festzulegen. Es muss nicht an die Volljährigkeit gekoppelt sein“, sagt der Rechtsexperte. Man müsse sich aber ehrlich machen, dass die Ziele, Wahlbeteiligung und politisches Interesse zu steigern, wahrscheinlich verfehlt würden.

Juso-Chef Achinger indes geht die geplante Änderung nicht weit genug. Mittelfristig müsse man sicher auch darüber sprechen, ob 16- und 17-Jährigen das passive Wahlrecht zugesprochen wird. Wenn dauerhaft eine ganze Wählergruppe nicht im Parlament vertreten ist, werde das Fragen aufwerfen.

Wird die Absenkung kommen?

Das Wahlalter ist ein Grundsatz, der in der Landesverfassung geregelt ist. Um ihn zu ändern, braucht es eine zwei-Drittel-Mehrheit im Landtag. Die CDU war bislang dagegen, ließ sich bei den Koalitionsverhandlungen aber von den Grünen überstimmen. Da auch SPD und FDP fürs frühere Wählen sind, dürfte der Verfassungsänderung nichts im Wegen stehen.

Robert Vehrkamp von der Bertelsmann-Stiftung erwartet, dass von einem solchen Beschluss eine Signalwirkung ausgehe. „Wenn das Wahlalter in NRW mit den Stimmen der CDU abgesenkt wird, sollte die Union auch im Bund ihre Blockadehaltung aufgeben. Alles andere wäre nur schwer begründbar“, glaubt Vehrkamp, Mitglied in der Bundes-Expertenkommission zur Wahlrechtsreform. Grzeszick ist zurückhaltender und mahnt: „Auf Landesebene sind Fragen und Zusammenhänge oft eher zu überschauen als auf Bundesebene. Hier stellt sich eher die Frage, ob so junge Menschen die Reife und Urteilsfähigkeit besitzen, Konsequenzen ihrer Entscheidung einzuschätzen.“