Bochum. Lässt sich die Realität noch von der Computerwelt trennen? Mehr als 50 Forscher untersuchen in Bochum, wie Virtualität den Alltag durchdringt.

Wenn man die Welt aus der Perspektive eines Eisbären auf der treibenden Scholle erleben könnte – was würde dies mit unserem Verständnis für den Klimawandel machen? Oder wenn man die Sicht eines Mastschweins im Stall einnehmen würde – veränderte sich dadurch unser Verhältnis zum Tier?

In der virtuellen Welt ist einfach alles möglich. Mit virtueller Technik könnten Schülerinnen und Schüler sich nicht nur in andere Lebewesen hineinversetzen, sondern auch in andere Zeiten reisen. Etwa als Bergmann die Arbeitsbedingungen unter Tage erleben oder mehr über das Leben von Kindern im Mittelalter erfahren. Der Geschichts- oder Biologieunterricht bekäme pädagogisch vermutlich eine ganz neue Wucht.

Teil unseres Alltags

Prof. Stefan Rieger ist begeistert von den virtuellen Möglichkeiten, doch geht es dem Bochumer Medienwissenschaftler dabei nicht allein um die Technik. „Das Virtuelle ist längst Teil unseres Alltags geworden und lässt sich von dem, was wir Realität nennen, gar nicht mehr trennen“, sagt er. Was das bedeutet und welche Folgen dies hat, untersuchen jetzt mehr als 50 Wissenschaftler in 13 Teilprojekten an der Ruhr-Uni Bochum.

Prof. Stefan Rieger,  Professor für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie an der Ruhr-Uni Bochum
Prof. Stefan Rieger, Professor für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie an der Ruhr-Uni Bochum © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Der neue Sonderforschungsbereich (SFB) „Virtuelle Lebenswelten“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in den ersten vier Jahren mit rund 8,5 Millionen Euro gefördert und gilt als ein geisteswissenschaftliches Pilotvorhaben für die Erforschung der Verschränkung von Virtualität und Realität mit vielerlei alltäglichen Bezügen im Leben der Menschen.

Was ist virtuell, was real?

Rieger, Professor für Mediengeschichte und Kommunikationstheorie am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Uni Bochum, ist Sprecher des neuen SFB. Forschende aus der Erziehungs- und Geschichtswissenschaft, der Kunstgeschichte, Linguistik, Literatur-, Medien- und Sozialwissenschaft beleuchten das Thema aus verschiedenen Perspektiven.

Dabei geht es nicht nur um mögliche Perspektivenwechsel und neue Lernwelten für Schülerinnen und Schüler. „Virtualität ist Teil unserer Lebenswelt geworden, in der Medizin, in der Pflege, in Bildung und Pädagogik, in Schulen und Universitäten, in Museen und auch in der Kunst“, zählt Rieger exemplarisch auf. „Die Frage ist, wie gehen wir damit um, wie verändert das unser Leben?“

Das Virtuelle nur mit Computerspielern und Nerds zu verbinden, die in surreale Welten abgetaucht sind und für ein Leben im Alltag verloren sind, sei eben falsch, betont Rieger. „Die Lebenswelten sind längst miteinander verwoben. Man kann die virtuelle Welt und die reale nicht voneinander trennen, das funktioniert nicht mehr. Sie stehen gleichberechtigt nebeneinander“, sagt Rieger und betont: „Der Sonderstatus der virtuellen Welt ist beendet.“

Mensch und Maschine

Ein Teilprojekt des SFB fragt zum Beispiel danach, wie Mensch und Maschine künftig zusammenarbeiten werden, berichtet Ina Bolinski, wissenschaftliche Koordinatorin des SFB. Konkret geht es dabei um die Steuerung autonomer Fahrzeuge. Nach welchen Kriterien soll das Auto im Ernstfall entscheiden? Soll es den materiellen Schaden möglichst niedrig halten oder vor allem Menschen schonen? Das Fahrzeug erschafft sich seine eigene virtuelle Welt durch zahllose Sensoren und berechnet voraus, dass gleich ein Unfall passieren wird, noch bevor der Fahrer in der Realität etwas davon ahnt. Also wie soll das System entscheiden und wer hat letztlich die Handlungsmacht?

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Andere Teilprojekte beleuchten die Frage, wie sich virtuelle Systeme für Therapien und in der Pflege nutzbar machen lassen oder wie Virtualität an der Schule und der Universität eingesetzt werden kann, etwa in der Vermittlung historischer Zusammenhänge. „Man kann konkrete historische Szenen nachstellen und schauen, wie es sich abgespielt haben könnte“, erklärt Professor Rieger. Wie Museen und Archive ihre Sammlungsbestände virtuell zugänglich machen können und wie dies die Wahrnehmung von Kunst beeinflusst, beleuchtet ein weiteres der 13 Teilprojekte.

Virtualität als treibende Kraft

Oder auch, wie sich das Lernen verändert, wie sich Vermittlung und Aneignung von Wissen wandeln, wenn es mehr und mehr im virtuellen Raum stattfindet und nicht in Präsenz – Stichwort: die virtuelle Universität, die durch Corona auch teils hastig und ungesteuert ins Virtuelle gestoßen wurde. „Wir wollen die Hochschule aber nicht zu einer Fern-Universität machen“, betont Ina Bolinski. „Das ist uns wichtig.“ Dennoch soll sich die Uni durch Veranstaltungen und Aktionen auch für die Menschen in der Region öffnen. Denkbar sei es etwa, Forschungsprojekte und Themen virtuell für die Öffentlichkeit erlebbar zu machen.

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Das Virtuelle ist wahr und die Wahrheit ist virtuell, dieser schleichende Prozess gegenseitiger Durchdringung wird sich fortsetzen, sind die Wissenschaftler überzeugt. „Virtualität stellt heute die treibende Kraft für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungsprozesse dar und hat sich in ihren Erscheinungsformen so ausdifferenziert, dass man sagen kann: sie ist normal geworden“, sagt Rieger.

Einfluss auf die Ernährung

Welche Konsequenzen das für viele Teilbereiche des Lebens haben wird, ist ein weites Forschungsfeld für die Wissenschaftler, die in einem Teilprojekt des SFB sogar nach dem Einfluss virtueller Lebenswelten auf das Ernährungsverhalten von Studierenden fragen. „Nur eines ist schon klar“, sagt Rieger: „Virtuelles Essen macht nicht satt.“

>>>> Ausweis exzellenter Forschung

Sonderforschungsbereiche (SFB) gelten als Ausweis exzellenter Forschungsarbeit einer Universität. In den auf Langfristigkeit angelegten Verbünden arbeiten Forscherinnen und Forscher fachübergreifend in ausgewählten Bereichen der Grundlagenforschung zusammen. NRW stellt mit 69 Sonderforschungsbereichen ein Viertel aller aktuell in Deutschland laufenden 276 SFB.

Besonders erfolgreich sind in NRW die Universitäten Köln (14), Aachen (9), Münster (9), Bochum (8) und Bonn (8). Die Universität Duisburg-Essen betreibt derzeit sieben SFB. Die SFB werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft aus Mitteln von Bund und Ländern finanziert.