Essen. Mit überwältigender Mehrheit, aber mit unüberhörbarer Skepsis stimmen die Grünen für Koalitionsverhandlungen mit der Wüst-CDU.

Bei den Grünen steht selbst nach großen Wahlsiegen selten jemand Spalier. Als Spitzenkandidatin Mona Neubaur am Sonntagnachmittag auf dem Weg zum Kleinen Parteitag die Essener Philharmonie betritt, warten vor der Tür bloß zwei Dutzend Kohlegegner mit Transparenten. Sie sind unzufrieden mit dem schwarz-grünen Sondierungspapier, weil damit nicht alle Dörfer im Rheinischen Braunkohlerevier vor den Abrissbaggern gerettet werden.

Auch sonst wird von Umweltorganisationen, Lobby-Verbänden und Klimaschützern seit der Einigung am späten Freitagabend im Netz ziemlich viel herumgemäkelt an dem zwölfseitigen Beschluss. Zu unscharf in der Verkehrspolitik, zu wenig beim bezahlbaren Wohnraum, zu inkonsequent beim Artenschutz, zu nachgiebig in der Innenpolitik. Nach dem historischen 18,2-Ergebnis vor zwei Wochen hatte sich mancher mehr Neuanfang erhofft.

"Ich verspreche Euch: Wir bleiben grün"

Drinnen im historischen Versammlungssaal wirbt Neubaur bei den rund 80 Delegierten eindringlich um Zustimmung zu formellen Koalitionsverhandlungen, um „den letzten Schritt“ Richtung Schwarz-Grün zu gehen: „Was jetzt als Chance vor uns liegt: Vielleicht, dass wir uns mit der CDU die Hand über eine Brücke reichen und lagerübergreifende Lösungen finden. Aber ich verspreche Euch: Wir bleiben grün.“ Es gibt warmen Applaus.

Kleine Parteitage sind bei den Grünen nie Selbstläufer. Die Kreisverbände der inzwischen 26.000 Mitglieder zählenden Landespartei entsenden eigenständig ihre Vertreter - und zwar nicht zwingend Berufspolitiker. Neubaur versucht, ihre Lust auf Macht überspringen zu lassen: „Wir sind bereit, Verantwortung zu übernehmen und wir haben, ehrlich gesagt, auch viel Bock drauf.“

Es soll noch einmal nachverhandelt werden

Haltung und Arbeitsatmosphäre beim Verhandlungsteam von Ministerpräsident Hendrik Wüst hätten gestimmt. Man wolle jetzt in den weiteren Gesprächen „in die Tiefe“ gehen. Die Parteispitze nennt in zahlreichen Redebeiträge immer wieder allerhand Trophäen, die man an vier Tagen Sondierung von morgens um acht bis Mitternacht herausgeholt habe. Die Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic verteidigt das Ergebnis sogar in der Innenpolitik, wo es doch ziemlich stark nach dem bisherigen „Null Toleranz“-Kurs von CDU-Innenminister Herbert Reul klingt. Die Polizistin aus Gelsenkirchen warnt vor heimlicher Ampel-Sehnsucht in NRW: Auch mit der SPD hätten sich die Grünen in der Innenpolitik immer „jeden Millimeter erkämpfen“ müssen.

Der schwarz-grüne Koalitionsvertrag ist ja auch noch gar nicht geschrieben. „Ich bin mir sicher, da wird noch mehr gehen“, frohlockt Co-Parteichef Felix Banaszak. Obwohl niemand ernsthaft erwarten kann, dass noch Substanzielles der CDU abgetrotzt werden kann. „Das Papier ist nicht das grüne Wahlprogramm, aber es ist noch ein bisschen weniger das CDU-Wahlprogramm“, findet Banaszak. Vielleicht könne ein Bündnis mit der auf dem Land verankerten CDU die Akzeptanz von gesellschaftlichen Großprojekten wie dem Windkraftausbau sogar erhöhen.

Schwarz-Grün soll das Lagerdenken in NRW überwinden

Das ist der Sound des Nachmittags: Schwarz-Grün bedeutet die Überwindung des Lagerdenkens in NRW und birgt Chancen für die Themen der Zeit. Manche Redner fordern zwar, noch einmal nachzubessern und wirken mäßig euphorisch. Nicola Dichant, die Sprecherin der Parteijugend, sagt sogar klipp und klar, dass der grüne Nachwuchs der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen nicht zustimmen könne.

Aber als selbst die Umweltschützerin und Neu-Landtagsabgeordnete Antje Grothus, die im Kampf gegen die Rodung des Hambacher Forstes bundesweit bekannt wurde, für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Schwarzen argumentiert, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Auch eine Parteilinke wie Landtagsfraktionschefin Verena Schäffer wirft ihre gesamte Reputation in die Waagschale: „Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Satz einmal sagen werde, aber: Ich bitte Euch um Zustimmung für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU.“

Die Last der nahenden Regierungsverantwortung ist spürbar

Die Stimmung ist konzentriert und harmonisch, in der Luft liegt die Last der nahenden Regierungsverantwortung. Bonns Oberbürgermeisterin Katja Dörner, die sich als „bekennende Schwarz-Grün-Skeptikerin“ vorstellt, macht eine eher nüchterne Kosten-Nutzen-Rechnung auf: „Eins ist auch klar: Hendrik Wüst hat ein Interesse, er möchte nämlich Ministerpräsident bleiben. Aber dafür muss er uns etwas geben.“ Bei den Grünen wirkt man stolz, der machtgewohnten CDU in den Sondierungen penible Textarbeit und programmatischen Ehrgeiz entgegengesetzt zu haben.

Auf den Fluren wird in ungläubigen Anekdoten daran erinnert, wo die Partei nach dem Wahldebakel 2017 gestanden hatte. Damals war man fast aus dem Parlament geflogen. Jetzt ist die Landtagsfraktion mit 39 Abgeordneten so groß, dass der alte Sitzungssaal zu klein wurde. Nach vierstündiger Aussprache steht fest, dass daraus eine schwarz-grüne Regierungsfraktion werden soll. Mit überwältigender Mehrheit ohne Gegenstimmen und bei nur sieben Enthaltung spricht sich der Kleiner Parteitag dafür aus, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Neubaur genießt das rhythmische Klatschen: „Danke für Euren Vertrauensvorschuss.“