Essen. Seit Jahrzehnten fordern Klimaschützer ein Tempolimit auf Autobahnen. Der Ukraine-Krieg spült die Forderung hoch. Was würde Tempo 100 bringen?

Die aktuelle Debatte um die Abhängigkeit von russischen Energieimporten vor dem Eindruck des Ukraine-Kriegs spült eine langjährige Forderung der Klimaschutzbewegung wieder hoch: Umweltverbände, Verkehrsforschende und die Grünen in NRW machen sich stark für ein Tempolimit auf Deutschlands Autobahnen. Mit diesem und anderen Schritten können, so die Lesart, der Spritverbrauch und somit letztlich die Abhängigkeit von russischen Ölimporten gesenkt werden.

Thorsten Koska, Mobilitätsforscher am Wuppertal Institut, spricht von einer „low hanging fruit“, eine niedrig hängenden und damit leicht zu pflückenden Frucht. „Ein Tempolimit ist eine einfache Maßnahme, die sich ohne Aufwand schnell umsetzen ließe, um den Verbrauch von Kraftstoff zu reduzieren, Importabhängigkeiten zu reduzieren und damit letztlich auch etwas für den Klimaschutz zu tun“, sagt Koska.

Greenpeace: Tempolimit spart rund 2,4 Millionen Tonnen Kraftstoff im Jahr

Deutschland gehört zu den wenigen Ländern weltweit, in denen es zumindest auf Autobahnen keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. Wenigstens theoretisch: Nach Angaben des Bundesamtes für Straßenwesen gilt auf fast 40 Prozent der Autobahnkilometer in Deutschland tatsächlich ein Tempolimit – entweder dauerhaft, temporär oder wegen Baustellen. Im verkehrsreichen NRW dürfte der Anteil höher sein, hinzukommen tagtäglich Staus.

Umweltschutzorganisationen fordern seit Jahren, das schnelle Fahren generell einzudämmen, um Treibhausgasemissionen einzusparen. Unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs hat die Organisation „Greenpeace“ nun ausgerechnet, welchen Effekt ein Tempolimit auf Kraftstoffverbrauch und damit letztlich die Abhängigkeit von Energie-Importen hätte. Greenpeace fordert ein temporäres, auf die Dauer des Konflikts bezogenes Limit.

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In dem Bericht „Kein Krieg für Öl“ heißt es: Die Einführung eines Tempolimits von 100 Stundenkilometern auf Autobahnen würde den Kraftstoffbedarf um zwei Millionen Tonnen pro Jahr senken. Würde zusätzlich außerorts das Tempo auf 80 Stundenkilometer gesenkt, steige die Einsparung auf 2,4 Millionen Tonnen. Das entspreche einem Anteil am Benzin- und Dieselabsatz in Deutschland von 4,6 Prozent und einem Anteil an den Öl- und Ölprodukt-Importen von 2,5 Prozent.

„Jede Tankfüllung, jede Heizöllieferung spült Geld in Putins Kriegskasse“, machte Greenpeace-Verkehrsexperte Benjamin Stephan unlängst deutlich. „Diese unerträglichen Finanzhilfen für Putins Angriff auf die Ukraine ließen sich schon morgen deutlich reduzieren.“

Umweltbundesamt: Krieg könnte Akzeptanz fürs Tempolimit erhöhen

Greenpeace bezieht sich in seinem Report auf eine Studie des Umweltbundesamtes (UBA) von 2020. Ein UBA-Sprecher bestätigt die Daten der Klimaschutzorganisation als plausibel, auch wenn methodische Ungenauigkeiten bestünden. Die Behörde rechnet die Einsparungen in Liter um und geht davon aus: Fahren die Menschen mehrheitlich und freiwillig auf Autobahnen maximal 100 und 80 Stundenkilometer auf Straßen außerorts, spare das rund 2,1 Milliarden Liter fossilen Kraftstoff ein. Bei einem strikten Tempolimit fiele die Einsparung noch einmal rund 20 Prozent höher aus.

Der Sprecher erwartet, dass diese langjährige Klimaschutz-Forderung vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs tatsächlich Aufwind bekommen könne. „Es hat schon vorher nicht an guten Argumenten für ein Tempolimit gemangelt“, so der Sprecher. „Jetzt sieht man das große Bedürfnis von Menschen, ihren Beitrag leisten zu können. Das wird die Akzeptanz für das Thema steigern.“

ADAC-Sprecher: In der Stadt auch mal das Rad nehmen

Selbst die Lobby der Autofahrerinnen und Autofahrer, der ADAC in NRW, überrascht angesichts des Kriegs und der hohen Spritpreise mit unerwarteten Aussagen. Zwar will sich der ADAC weiterhin nicht zu einem gesetzlich vorgeschriebenen Tempolimit auf Autobahnen positionieren.

Thomas Müther, Sprecher des ADAC Nordrhein, appelliert aber an Menschen hinterm Steuer, möglichst spritsparend zu fahren. Durch eine gleichmäßige und moderate Fahrweise ließe sich der Spritverbrauch um etwa 20 Prozent reduzieren. „Je schneller ich fahre, desto höher wird der Verbrauch. Die meisten Fahrzeuge verbrauchen bei 80 bis 100 km/h am wenigsten Sprit. Noch wichtiger ist aber eine gleichmäßige Fahrweise“, so Müther. Mehr noch: „Gerade in der Stadt sollte man sich überlegen, ob das Auto hier wirklich das Verkehrsmittel der Wahl ist. Das Fahrrad ist oft die bessere Alternative und auf kurzen Strecken von bis zu fünf Kilometern ist man in der Regel sogar schneller am Ziel.“

Die Benzin- und Dieselpreise sind seit Beginn des Ukraine-Kriegs massiv gestiegen - wie dieses Bild vom 9. März aus Moers zeigt.
Die Benzin- und Dieselpreise sind seit Beginn des Ukraine-Kriegs massiv gestiegen - wie dieses Bild vom 9. März aus Moers zeigt. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Felix Creutzig, Verkehrsforscher aus Berlin, geht noch einen Schritt weiter. Er sieht im autofreien Sonntag ein wirksames Signal gen Russland. Studien zufolge finden rund zwölf Prozent aller Autofahrten sonntags statt. „Man kann davon ausgehen, dass rund ein Sechstel dieser Fahrten sich auf andere Tage verschieben würden oder stattfinden müssen, etwa Rettungsfahrten oder beruflich notwendige“, so Creutzig, der seit zwölf Jahren zu städtischer Mobilität forscht. „Selbst dann würden durch einen autofreien Sonntag zehn Prozent aller Autofahrten in der Woche wegfallen. Die Einsparungen wären enorm.“

Aber wären die Auswirkungen von weniger und langsamerem Autofahren tatsächlich bei den Importen spürbar? Erwartete Einsparungen durch ein „Tempolimit für den Frieden“ machen laut Greenpeace-Report einen Anteil an den Ölimporten von 2,5 Prozent aus. Autofreie Sonntage stünden für weitere 3,1 Prozent, eine Fortführung der Homeoffice-Pflicht für die Zeit des Krieges würden weitere 1,6 Prozent bringen. Lohnt das?

Infrastruktur-Fachmann: Tempolimit könnte russische Importe durchaus treffen

Thomas Puls, Senior Economist für Verkehr und Infrastruktur beim Institut der Deutschen Wirtschaft mit Sitz in Köln, ist da zurückhaltend. „Man könnte etwa mit einem Tempolimit einen einsparenden Effekt erzielen und wahrscheinlich entfallen dann zunächst russische Importe“, sagt er. „Der Markt ist allerdings gerade so massiv in Bewegung, dass man dazu kaum Prognosen machen kann.“

Vor dem Krieg stammte rund ein Drittel der deutschen Ölimporte aus Russland. Inzwischen schwenkten aber immer mehr Unternehmen um. „Die Preise zum Chartern eines Tankers sind deutlich gestiegen, das ist ein Zeichen dafür, dass die Unternehmen Alternativen zu russischen Importen suchten, bei denen Pipelinelieferungen eine große Rolle spielen“, so Puls.

Schwieriger sei das bei Diesel. Vor der Pandemie stammten zwölf Prozent des verbrauchten Diesels aus Russland. Alternativen gebe es kaum. Puls erwartet indes, dass der Kraftstoff-Absatz auch ohne angeordnete Einschränkungen sinken wird. „Wir erleben einen Preisschock“, so der Fachmann. „Da passen jene, die es können, ihr Fahrverhalten eh an.“

>>> NRW-Grüne machen Druck auf Ampel-Regierung im Bund

Die Grünen waren mit einem Tempolimit 2021 in den Bundestagswahlkampf gezogen, konnten sich bei Koalitionsverhandlungen aber nicht durchsetzen. Nun machen die NRW-Grünen Druck auf die Ampel-Regierung: Landesvorsitzende Mona Neubaur sagte, man müsse sich von politischen Denkverboten verabschieden und forderte, alles, was geeignet sei um Ressourcen einzusparen, zu diskutieren – auch Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Bundes- und Landesstraßen. „Wladimir Putins blutiger Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine neue Welt geschaffen. Diese nüchterne Analyse bedeutet, dass alte Gewissheiten auf den Prüfstand gehören und sicher Geglaubtes überdacht werden muss“, so die Spitzenkandidatin im NRW-Landtagswahlkampf.

Unterstützung von der aktuellen schwarz-gelben NRW-Landesregierung kann sie nicht erwarten. Dort hält man das Tempolimit eher für Symbolpolitik, weil nur wenige Autobahnen nicht bereits reguliert sind.