Essen/Witten. Nils-Christian Bormann, Politikprofessor an der Universität Witten/Herdecke, rät zur Vorsicht im Umgang mit dem russischen Präsidenten.

Der Konfliktforscher Prof. Nils-Christian Bormann sieht im Ukraine-Krieg eine Zeitenwende und rät zur Besonnenheit im Umgang mit Russlands Präsident Putin. Gerade für die Deutschen sei in den vergangenen Tagen ein Weltbild zusammengebrochen, sagte der Politikwissenschaftler der Universität Witten/Herdecke im WAZ-Gespräch.

Sie bezeichnen den Überfall der russischen Armee auf die Ukraine als „Zeitenwende in Europa“. Warum?

Nils-Christian Bormann: Jahrzehntelang kannte die Welt so gut wie keine zwischenstaatlichen Kriege mehr. Afghanistan, Irak, Syrien, Äthiopien – das waren und sind Bürgerkriege, in denen politische Gewalt innerhalb eines Landes ausgebrochen ist. Das berüchtigtste Beispiel solcher ethno-nationalistischen Konflikte in Europa war der Jugoslawien-Krieg Anfang der 1990-er Jahre. Doch der Angriff Russlands auf die Ukraine ist etwas völlig anderes. Es ist das erste Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges, dass in Europa eine Großmacht ein anderes Land überfällt.

Tut Russlands Präsident Wladimir Putin nicht so, als wäre der Krieg ein innerrussischer Konflikt?

Ethno-Nationalismus bedeutet, alle Bürger eines Staates sollen in einem Land leben. Aktuell gibt es rund 25 Millionen ethnische Russen außerhalb Russlands, die meisten davon leben in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in der Ukraine, den baltischen Staaten und in Zentralasien. Es ist die größte Volksgruppe Europas, die nicht im eigenen Staat lebt. Putin scheint diese nationalistische Karte zu spielen, entweder aus innenpolitischem Machtkalkül, oder weil er tatsächlich selber daran glaubt, dass all diese Menschen von Moskau aus regiert werden sollten und die Ukrainer ohnehin Russen sind.

Was macht dieses Denken so gefährlich?

Der Nationalismus kann eine sehr mächtige Ideologie sein, weil er den Menschen das Gefühl gibt, zu etwas Größerem zu gehören und Teil eines besonderen Projekts zu sein, für das man bereit ist, sein Leben zu opfern. Hinzu kommt: Russland ist ein Staat, der langfristig gegenüber den westlichen europäischen Staaten wirtschaftlich auf dem absteigenden Ast ist. Auch hiervon könnte Putin mit seiner Invasion ablenken wollen.

Was sagt man als Konfliktforscher zu Putins unverhohlener nuklearer Drohung?

Putins Drohung mit den Atomwaffen schätze ich keineswegs so ein, dass wir hier vor dem dritten Weltkrieg stehen. Ich glaube auch nicht, dass es zu einem konventionellen Krieg zwischen dem Westen und Russland kommt. Ich denke, es handelt sich hierbei um die aggressive Eskalationsrhetorik der russischen Seite. Mit den nüchternen Augen des Konfliktforschers betrachtet, ist Putins Ankündigung, seine Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, ein erwartbares Vorgehen.

Erwartbar? Das müssen Sie erklären.

Putin hat sich doppelt verschätzt. Das betrifft sowohl den militärischen Widerstand in der Ukraine als auch die Entschlossenheit des Westens. Er hat auch sicher nicht damit gerechnet, dass Deutschland seine seit dem Ende des Kalten Krieges betriebene Politik der Abrüstung und der Vorsicht innerhalb von nur drei Tagen über den Haufen wirft.

Das bedeutet?

Die größte Volkswirtschaft Europas will plötzlich einen beträchtlichen Teil ihrer Ressourcen einsetzen, um ihre Streitkräfte zu modernisieren und aufzustocken, die dadurch möglicherweise eines Tages sogar in der Lage versetzt werden, es konventionell mit Russland aufzunehmen. Das ist vollkommen neu. Dazu kommen die Sanktionen des Westens, die in ihrer Härte bis vor ein paar Tagen ebenfalls nicht vorstellbar waren. Vor diesen sicherlich beispiellosen Ankündigungen Deutschlands und des Westens muss man Putins Eskalation sehen.

Hat Putin mit seiner Atom-Drohung also nur auf die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag reagiert?

Es ist natürlich nicht ausschließlich eine Reaktion auf die deutsche Politik. Die wirtschaftlichen Sanktionen, die Verlegung von Truppen an die Nato-Ostgrenze, all das sind ja internationale Entscheidungen. Aber im Vergleich zum seit Monaten bekannten Standpunkt der USA ist die deutsche Kehrtwende eine aus Putins Sicht unerwartete Politik. Sie ist selbstverständlich die richtige Politik. Ich will nur darauf hinweisen, dass an der Eskalationsspirale auch Deutschland mitwirkt – weil es vorher so vieles versäumt hat.

Was heißt das für den weiteren Umgang mit Russland?

Es wird viel darüber geredet, wie unberechenbar Putin ist. Doch wenn man zur Konfliktentschärfung beitragen will, muss auch die Frage erlaubt sein: Wie berechenbar ist eigentlich der Westen aus russischer Sicht? Die Entscheidung, Härte gegenüber Russland zu demonstrieren, ist ja völlig richtig. Aber der Westen sollte vorsichtig genug sein, nicht selbst zu sehr an der Eskalationsschraube zu drehen. Neben Härte und Entschlossenheit muss es auch Wege zum Dialog geben. Auch wenn man moralisch verwerflich findet, was er mit der Ukraine macht: Man darf Putin nicht zu weit isolieren und in die Enge treiben.

Die Sorge vor einem Einsatz der Atomwaffen ist unbegründet?

Die Aktivierung der Atomstreitkräfte ist ein Signal Putins nach dem Motto: Auch ich kann weiter eskalieren. Dass es zur nuklearen Katastrophe kommt, glaube ich nicht. Trotzdem ist die Lage ernst. Sollte sich Putin massiv in eine Ecke gedrängt fühlen, könnte er womöglich den Einsatz taktischer Atombombe befehlen. Und man muss leider sagen, selbst wenn es erschreckend klingt: Die Welt hat sich auch nach Hiroshima und Nagasaki weitergedreht.

Welche Lehren kann Deutschland aus der aktuellen Situation ziehen?

Für Deutschland ist in den letzten Tagen ein Weltbild zusammengebrochen. Die meisten Menschen hier haben sich gar nicht vorstellen können, dass es in Europa wieder zu einem offenen Krieg kommt. Und das, obwohl der Ukraine-Krieg so exakt vorhergesagt wurde wie kein militärischer Konflikt vor ihm. Auch aufgrund unserer Geschichte haben wir Deutsche den ultimativen Ausschluss von Krieg als Option der eigenen Politik verwechselt mit der Vorstellung, dass Kriege einfach nicht mehr stattfinden. Wie man sieht, haben andere Akteure andere Optionen. Der Krieg, der jetzt so nah bei uns ist, wird uns so oder so noch lange beschäftigen.

Was erwartete uns - ein Dauerkonflikt mit Russland, eine Art Kalter Krieg 2.0?

Ja. Vorausgesetzt, dass diese russische Regierung im Amt bleibt, wird sich die EU mittelfristig auf eine strategische und ideologische Rivalität mit Russland einstellen müssen.

Zur Person: Nils-Christian Bormann ist Konfliktforscher und seit 2017 Professor für „International Political Studies“ an der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft der Universität Witten/Herdecke. Der 36-Jährige wuchs in Witten auf und hat unter anderem an so renommierten Universitäten wie der ETH Zürich (Schweiz) und der University of Pennsylvania (USA) geforscht.