Essen. Woher kommt das Weltbild der Verschwörungsanhänger und Corona-Leugner? Fragen an den Theologen und Sektenkenner Andreas Hahn.
Eine Krise kommt selten allein: Mitten in der Pandemie erschüttern Corona-Leugner, Verschwörungsanhänger und radikale Impfverweigerer den Glauben an den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Woher rührt der Zorn auf Staat und Wissenschaft? Warum sind Menschen für Verschwörungsmythen empfänglich? Was kann man dagegen tun? Der Theologe Andreas Hahn beschäftigt sich mit solchen Fragen hauptberuflich. Er ist Beauftragter für Sekten und Weltanschauungsfragen der evangelischen Landeskirche Westfalen und schreibt gerade ein Buch über die Macht von Verschwörungstheorien.
Warum befasst sich ein kirchlicher Sekten- und Weltanschauungsbeauftragter mit Verschwörungstheorien?
Andreas Hahn: Anhänger von Verschwörungstheorien leben in einer bestimmten Weltanschauung. Der Einstieg in eine Verschwörungstheorie ist der Mitgliedschaft in einer sektiererischen Gruppe sehr ähnlich. Natürlich hält sich niemand selbst für einen Verschwörungstheoretiker. Die Betreffenden sagen nicht: ich bin Verschwörungstheoretiker, sondern: ich hab‘s gecheckt.
Wer fragt bei Ihnen um Rat nach?
Das Thema hat durch die Pandemie sehr stark Fahrt aufgenommen. Zu mir kommen Menschen direkt nach den Gottesdiensten, oder es melden sich Angehörige, die zum Beispiel nicht mehr wissen, wie sie damit umgehen sollen, dass sich ihre Eltern nicht impfen lassen wollen.
Mit wem haben wir es genau zu tun?
Wir haben es mit Menschen zu tun, die hinter den Corona-Maßnahmen irgendwelche obskuren Machenschaften vermuten oder die mit Einschränkungen von Freiheitsrechten nicht klarkommen. Das geht aber auch bis hin zu Ausrottungsphantasien wie die Behauptung, Microsoft-Gründer Bill Gates wolle alle Geimpften durch einen eingepflanzten Chip kontrollieren und mit der Impfung die Menschheit dezimieren.
Gibt es – als Folge der Pandemie - heute mehr Verschwörungsanhänger als früher?
Ob es mehr Verschwörungsanhänger gibt oder es eine Art Umschichtung ist, lässt sich nicht genau sagen. Dazu ist die Datenlage zu dünn. Lange waren Verschwörungstheorien ein Randphänomen. Seit Corona hat die Szene aber einen ungeheuren Schub bekommen. Man sieht auch, dass sich unter dem Dach der Corona-Leugner und Impfverweigerer die unterschiedlichsten Milieus versammeln. Die erste Demo gegen die Corona-Politik gab es aus dem Berliner linksautonomen Milieu. Heute reicht das Spektrum bis zum radikalen rechten Rand unserer Gesellschaft.
Wer ist für die teils abstrusen Verschwörungsmythen besonders anfällig?
Wir reden vom Persönlichkeitsmerkmal der Verschwörungsmentalität. Es geht dabei um Menschen, die eine hohe Bereitschaft haben, sich an Verschwörungstheorien zu hängen. Dazu gehören etwa narzisstische, also übertrieben selbstsüchtige Persönlichkeit. Oder Menschen mit ausgeprägter Angst vor Kontrollverlust. Auch Personen, die schlecht mit Zweideutigkeiten umgehen können, neigen eher zu Verschwörungsdenken, denn Verschwörungstheorien geben ihnen eine Form von Sicherheit. Nicht selten glauben solche Menschen auch an mehrere Verschwörungen, sogar an solche, die sich eigentlich ausschließen. Es kann vorkommen, dass jemand gleichzeitig glaubt, hinter dem Tod von Lady Di stecke irgendein Geheimdienst und dass sie gar nicht tot ist.
Gibt es einen geistigen Nährboden für Verschwörungsdenken?
Es ist keine Frage der Intelligenz, ob man an eine Verschwörung glaubt oder nicht. Diese Menschen sind auch nicht automatisch psychisch krank, nur weil sie Irrationales glauben. Studien zeigen, dass Verschwörungstheoretiker Menschen sein können, die sich bildungsmäßig zurückgesetzt fühlen. Immer wieder feststellen lässt sich, dass Menschen mit einem Hang zu esoterischen Weltanschauungen eine gewisse Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien haben. Mit dem Unterschied, dass Verschwörungsdenken in der Regel Personen sieht und nicht wie Esoterik an eine Kraft hinter den Dingen glaubt. Auch viele Anhänger der anthroposophischen Lehre Rudolf Steiners stehen Corona-Politik und Impfen skeptisch gegenüber. Was auch daran liegt, dass Steiner selbst gegen Impfungen war. Das heißt aber nicht, dass jeder, der auf eine Waldorfschule geht oder dort als Lehrer arbeitet, an Verschwörungstheorien glaubt. Grundsätzlich wirken Verschwörungstheorien dort als „Brandbeschleuniger“, wenn sich Gruppen schon zuvor radikalisiert haben.
Wie hängen Misstrauen gegenüber dem Staat und Verschwörungsgeist zusammen?
Mit manchen russlanddeutschen Gemeinden beispielsweise in Ostwestfalen gibt es Probleme mit Staatsferne. Im kollektiven Gedächtnis dieser teils noch in der kommunistischen Sowjetunion aufgewachsenen Menschen ist der Staat als übergriffig abgespeichert, als eine Macht, die tief ins Privatleben und vor allem den Glauben eingreifen kann. Da kommt es dann oft dazu, dass sich solche Gruppen vor staatlichen Maßnahmen abschotten. Das ist im engeren Sinne kein Verschwörungsdenken. Hier kommt es darauf an, diese Menschen mitzunehmen und ihnen mit Offenheit zu begegnen.
Welche Bedeutung hat das Internet?
Verschwörungstheorien gab es natürlich schon vor dem Internet-Zeitalter. Allerdings macht das Internet es viel leichter, sich auszutauschen und sich zu verbinden. Außerdem halten die Algorithmen der Suchmaschinen die Menschen in ihren Filterblasen, weil sie ihnen immer dieselben Themen vorschlagen. Andererseits kann das Netz auch zur Aufklärung beitragen.
Wie soll man mit Verschwörungsanhängern umgehen?
Sie als Menschen ernst nehmen und versuchen, sie zurückzuholen. Versuchen Kontakt zu halten. Rationale Argumente oder Statistiken helfen weniger als Geschichten über eigene Erlebnisse.
Was sage ich einem Corona-Leugner und Impfverweigerer aus meinem Freundeskreis?
Verschwörungstheorien zu widerlegen, funktioniert nicht. Da hilft auch kein rational erklärender Podcast. Man kommt immer nur bis zu einem bestimmten Punkt. Der Anhänger einer Verschwörungstheorie will nichts erklärt bekommen, sondern verstanden werden. Aber man kann zumindest Zweifel säen und darauf hoffen, dass dies auch andere tun. Wichtig finde ich, Fragen zu stellen: Wem nützen eigentlich die Corona-Maßnahmen? Was hat die Regierung davon, die Wirtschaft gegen die Wand zu fahren? Oder: Nehmen wir mal an, du hast Recht – was heißt das dann und wie geht es jetzt weiter? Man sollte Gemeinsamkeiten betonen („ich merke, dass dir das Sorge bereitet“) und über andere Themen reden, auch über andere Verschwörungstheorien, an die der Gesprächspartner eher nicht glaubt.
Was halten Sie von der Impfpflicht?
Überzeugte Corona-Leugner wird die Impfpflicht eher bestätigen und sie noch weiter in ihre Denkmuster treiben. Denjenigen, die in der Szene am Rand stehen und unentschieden sind, könnte die Impfpflicht helfen, ihren Widerstand ohne Gesichtsverlust aufzugeben. Ich setze aber eher auf Einschränkungen für Ungeimpfte. Die kann man besser erklären. Wer keinen Führerschein macht, darf nicht Autofahren. Das ist einleuchtender, als den Führerschein für alle zur Pflicht zu machen.