Düsseldorf. Der scheidende Verfassungsschutz-Chef Burkhard Freier sieht mit Sorge, wie Demokratiefeinde in die Mitte der Gesellschaft vordringen.

Als Burkhard Freier vor zehn Jahren zum Chef des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes befördert wurde, räumte er schnell mit dem Schlapphut-Image seiner Behörde auf. Der Jurist mit SPD-Parteibuch, der bereits auf eine lange Karriere im Innenministerium zurückblickte, verordnete dem verschwiegenen Aufklärungsdienst etwas sehr Ungewöhnliches: Transparenz.

Freier sprach fortan mit Journalisten, informierte das Parlament, ging in Schulen. „Wir arbeiten nicht für den Panzerschrank“, lautete sein Credo. Wenn Anschläge nur mit viel Glück oder dank der Hilfe befreundeter ausländischer Nachrichtendienste verhindert werden konnten, sagte Freier das genau so ungeschminkt. Er entwickelte bereits Aussteigerprogramme für Extremisten, als das im Law-and-Order-Betrieb der Innenpolitik noch unter „Kuschelpädagogik“ ressortierte.

Extremisten kapseln sich nicht mehr ab

Die ganze Herangehensweise gefiel auch CDU-Innenminister Herbert Reul, der Freier nach dem Regierungswechsel 2017 unter Missachtung der parteipolitischen Farbenlehre im Amt beließ. Als sich der Verfassungsschutzchef, der im März 66 wird, nun am Freitag vor Journalisten in den Ruhestand verabschiedet, tut er das auf seine Art: mit einer ungeschminkten Bestandsanalyse.

„Wir werden einen Extremismus in der Zukunft erleben, der sich gewandelt hat“, sagt Freier. Es gebe eine Entgrenzung. Corona hat viele alte Gewissheiten der Verfassungsschützer aufgelöst. Extremisten waren lange in klaren Schubfächern verstaut. Ob Neonazis, Autonome oder Islamisten – es gab äußere Erkennungszeichen wie Kleidung oder Sprache und deren Abkapselung in hermetischen Gruppen.

Ihr Weltbild war schnell mit den „drei Us“ beschrieben: Ungleichwertigkeit der Menschen im Rechtsextremismus, soziale Ungerechtigkeit im Linksextremismus und Unglaube im Islamismus. Corona-Protest dagegen schweißt Rechtsextremisten, Wutbürger, Esoteriker und Verschwörungsmythiker in einer wilden Mischung zusammen. „Diese Szene hat viel mehr Versatzstücke für die Ideologie“, erklärt Freier. Von Wissenschaftsfeindlichkeit bis Elitenverachtung finden sich plötzlich viele Strömungen.

Nach Corona kommt das nächste Protestthema

Wenn die Pandemie überwunden sei, werde sich dieser diffuse Protest neue Themen suchen. „Je nach Krise bauen sie sich wieder was zusammen“, glaubt Freier. Mobilisierung und Radikalisierung findet heute fast ausschließlich in sozialen Netzwerken statt. Extremisten verschleierten ihre Aktivitäten und versuchten immer stärker, Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden. Rechtsextremisten träten nicht mehr mit Springerstiefel auf und Muslimbrüder nicht mehr mit langen Bärten.

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Stephanie Weltmann
Von Stephanie Weltmann

Die Anschlussfähigkeit ist bedrohlich gewachsen. „Wir haben in den letzten zweieinhalb Jahren erlebt, dass das Misstrauen gegenüber Politik und den Institutionen unserer Demokratie immer größer wird“, sagt Freier. Man stelle in der Mitte der Gesellschaft „gar keine Abgrenzungsreflexe“ zu Extremisten mehr fest.

"Ich glaube nicht, dass Leute aus Versehen mitlaufen"

Gemessen an der Gesamtbevölkerung sind die Corona-Leugner und „Spaziergänger“ zwar weiterhin eine sehr kleine Minderheit. Doch Freier verdeutlich das bedenkliche Personenpotenzial für mögliche extremistische Gewalt anhand einer Pyramide: Es gebe inzwischen „eine riesengroße virtuelle Szene“, die sich im Netz bei Messengerdiensten wie Telegram formiert. Man gehe von bis zu 100.000 Menschen allein in NRW aus. Auf die Straße bei „Montagsspaziergängen“ gingen zeitgleich immerhin schon bis zu 30.000 Personen. Und der harte Kern der Organisatoren und Rädelsführer umfasse etwa 300 Leute.

„Ich glaube nicht, dass die Leute da aus Versehen mitlaufen“, sagt Freier. Es gebe bis tief in die Mitte der Gesellschaft eine Kultur der „Ja, aber“-Halbbotschaften. Man betrachtet sich selbst ja nie als Extremist oder Demokratie-Verächter, rechtfertigt aber immerzu die Nähe zu solchen Positionen.

Virtuellen Agenten gehört die Zukunft

Der Verfassungsschutz wird sich wandeln müssen. Niemand treffe sich mehr in einer Kneipe und erzähle im Beisein eines V-Manns, wann der nächste Kameradschaftsabend geplant sei, so Freier. Die Zukunft gehöre virtuellen Agenten, die systematisch soziale Netzwerke durchkämmen können. Es braucht mehr Analysetechnik und wohl auch veränderter rechtlicher Rahmenbedingungen, wie die aktuelle Hilflosigkeit der Bundesregierung im Umgang mit Hass-Botschaften bei Telegram zeigt. Freier, der selbst mal mit dem Sammeln verfassungsfeindlicher Schriften angefangen hat, ist sicher: „Wir können über das Internet mehr aufklären als in der realen Welt.“