Essen. Der Dortmunder Techniksoziologe Prof. Johannes Weyer fordert für Facebook strengere staatliche Kontrollen - und ein Gegengewicht

Internet und Digitalisierung bestimmen unser Leben immer mehr – im Guten wie im Schlechten. Wo stehen wir heute?

Johannes Weyer: Die Internetgesellschaft ist momentan so unterwegs, wie wir es in den 1970er Jahren auf der Autobahn waren: mit hohem Tempo, aber ohne Sicherheitsgurt. Wir sind zwar gerade dabei, uns einen zu basteln, aber den Airbag haben wir lange noch nicht. In gerade einmal zehn Jahren sind wir eine fast komplett digitale Gesellschaft geworden. Es wird seine Zeit brauchen, bis die Menschen verstehen, wie die neue Technik wirkt und welcher technische und gesellschaftliche Sicherheitsrahmen nötig ist.

In Ihrem Buch „Die Echtzeitgesellschaft“ warnen Sie vor einer Algokratie. Was meinen Sie damit?

Algokratie ist ein Kunstwort aus Algorithmen und Technokratie. Es beschreibt, dass nicht mehr die technischen Experten herrschen, sondern die Algorithmen selbst diese Rolle übernommen haben und kaum mehr kontrollierbar sind. Beispiel: Wer uns auf Facebook als Freund vorgeschlagen wird oder ob uns der Dienst eine Nachricht aus dem Spiegel oder aus der WAZ zuspielt, das entscheidet bei Facebook nicht mehr ein Mensch, sondern der Algorithmus.

Kann sich Facebook etwa selbst nicht mehr kontrollieren?

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In gewisser Weise ist das so. Die Prozesse spielen sich sehr schnell und mit riesigen Datenmengen ab. Facebook kann nur noch theoretisch alles mitlesen. Praktisch ist das bei Milliarden von Nachrichten täglich nicht mehr möglich. Aber der Algorithmus kann das. Er kann aus den Nachrichten Tendenzen ablesen, die gerade angesagt sind. Facebook hat etwas geschaffen, das das Unternehmen vom Prinzip her zwar noch versteht, aber die Auswirklungen hat es nicht mehr unter Kontrolle. Das hat der Konzern mehrfach selbst zugegeben.

Hört sich nach der baldigen Herrschaft der Maschinen an.

Computer sind dumm, aber schnell. Algorithmen sind kein Hexenwerk. Sie funktionieren nach einer simplen Wenn-Dann-Logik. Man kennt die Algorithmen und kann sie lesen. Aber die Ergebnisse sind unvorhersehbar. Die unendliche Verkettung von Möglichkeiten macht aber auch die Faszination aus.

Befördern Social-Media-Plattformen Wut und Hass in unserer Gesellschaft?

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Der Algorithmus ist neutral. Er wirkt wie ein Verstärker für Entwicklungen, die in der analogen Welt viel langsamer ablaufen. Ein Gerücht zu streuen, war früher ein mühsamer Prozess. Im Internet verbreiten sich Nachrichten und Falschnachrichten in rasender Geschwindigkeit. Aber das gilt auch für positive Nachrichten. Allerdings ist unsere Aufmerksamkeit eher auf schlechte Neuigkeiten getrimmt.

Sind die Social-Media-Konzerne eine Gefahr für die Demokratie?

Die großen Internetgiganten habe die Verantwortung, weil sie die Maschine installiert haben, die die Verbreitung von Fake News in diesem Tempo und in immer größerer Reichweite ermöglicht. Fake News gab es schon immer. Nur können sie heute geschickter lanciert werden. Damit können zum Beispiel antidemokratische Tendenzen, die es auch in der analogen Welt gibt, verstärkt werden. Ich bin aber verhalten optimistisch, dass die Demokratie im Internetzeitalter nicht zugrunde geht. Wir müssen nur wachsam bleiben und kluge Mechanismen finden, die die Internetkonzerne regulieren.

Was meinen Sie genau?

Fake News sollten nicht nur gelöscht werden dürfen. Es müssen auch diejenigen, die im Netz zu Hass aufrufen, tatsächlich bestraft werden. Straftaten im Internet müssen verfolgbar sein und auch verfolgt werden. Es muss im Internet Stoppschilder geben, damit klar ist, was erlaubt ist und was nicht. Das heißt aber auch: Freiräume müssen verengt werden, auch wenn das dem traditionellen Spirit des freien, anonymen, grenzenlosen Internets widerspricht. Es hat sich zu vieles ins Negative entwickelt. Wir brauchen eine andere Kultur des Internets.

Es ist also dringend mehr Kontrolle nötig?

Ja. Dazu hat Facebook schon vor einigen Jahren selbst beigetragen und damit begonnen, den Nachrichtenstrom mit technischen Mitteln stärker zu kontrollieren. Die Verbreitung von Nachrichten an große Gruppen etwa wurde sehr stark eingeschränkt. Aber das Unternehmen ruft auch händeringend nach dem Staat. Mein Eindruck ist: Facebook will Regulierung. Marc Zuckerberg hat mehrfach einen staatlichen regulativen Rahmen für Facebook eingefordert. Was wir ebenfalls dringend brauchen: ein Gegengewicht zu den US-Tech-Konzernen. Also eine europäische Suchmaschine und eines Tages ein europäisches Facebook, das europäischem Recht unterliegt.

Warum geben so viele Menschen ihre Daten derart bereitwillig in die Hände anonymer Internetgiganten?

Dahinter stecken überzogenes Vertrauen und Unkenntnis. Eine große Rolle spielt auch die Kostenlos-Kultur. Früher war man kostenlosen Angeboten gegenüber eher skeptisch. Heute muss für uns alles kostenlos sein. Es ist eine Verführung. Wir haben uns an diesen billigen Köder gewöhnt, der uns hingeworfen wird, um an unsere Daten zu kommen. Viele Menschen fallen darauf herein. Es ist ziemlich naiv, aber es ist auch alternativlos. Denn es gibt keine echte Alternative zu Facebook & Co. Das hat diese natürlichen Monopole wachsen lassen. Langsam bilden sich aber Gegenbewegungen heraus. In meinem Bekanntenkreis sind viele auf den Messenger-Dienst „Signal“ umgestiegen. Man braucht dafür natürlich eine kritische Masse. Es hat keinen Sinn, auf einer Plattform zu sein, wo die eigenen Freunde nicht sind.