Essen. In den Hochwassergebieten ist auch die medizinische Infrastruktur beschädigt. Fachleute bauen Not-Praxen auf. Nachfrage nach Beruhigungsmitteln
Das Telefon funktioniert noch nicht, mit der Stromversorgung klappt es nur sehr eingeschränkt und die Internetverbindung bricht beim WhatsApp-Gespräch immer wieder ab. Doch Oliver Funken lässt sich davon nicht aufhalten: Der Hausarzt aus dem vom Hochwasser der vergangenen Woche getroffenen Rheinbach im Rhein-Sieg-Kreis hat alle Hände voll zu tun.
„Gerade bauen wir eine Not-Praxis in einem Altenheim auf“, sagt Funken. Junge Ärzte und Ärztinnen und Frühpensionierte haben Hilfe angekündigt, die Unterstützung sei groß. „Die Grundversorgung leisten derzeit Praxen in der Nachbargemeinde, die unsere Patienten übernommen haben.“ Wie lange Hilfe von außen oder eine Not-Praxis nötig sind, kann er nicht sagen: „Hier in Rheinbach wissen wir von drei großen Praxen, die noch funktionsfähig sind. Der Rest ist unklar.“
105 Praxen allein in Nordrhein nach Hochwasser zum Teil oder gar nicht arbeitsfähig
Unter den Fluten der vergangenen Woche sind nicht nur Straßen, Bahngleise und Brücken schwer beschädigt worden. Auch die medizinische Infrastruktur hat unter dem Hochwasser gelitten: Praxen und Apotheken sind beschädigt oder sogar zerstört worden.
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein meldet am Donnerstag, dass 105 Praxen nicht mehr oder nur bedingt arbeitsfähig gewesen seien. In vielen Praxen gebe es nach wie vor weder fließendes Wasser noch Strom, Inventar, medizinische Geräte, Medikamente, Impfstoffe und Akten seien zum Teil zerstört oder unbrauchbar. Laut Apothekerkammer Westfalen-Lippe sind 50 Apotheken besonders im Süden des Landes nicht mehr betriebsbereit. Mehr als zehn Anlaufstellen im Landesteil Westfalen-Lippe sind vom Hochwasser betroffen. Auch Krankenhäuser sind beschädigt worden: Im Regierungsbezirk Köln wurden drei Kliniken wegen der Fluten evakuiert.
Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund zeigt sich besorgt über die Versorgung der Patienten in den Hochwassergebieten in NRW und Rheinland-Pfalz. Niemand habe bisher ein komplettes Bild davon, wie stark die medizinische Grundversorgung zerstört sei, hieß es.
Warnung vor steigender Infektionsgefahr durch Müll und Schlamm
Die Praxis von Oliver Funken ist nicht zerstört. Arbeitsfähig ist sie im zweiten Stock eines überfluteten Gebäudes allerdings auch nicht. „Man kann Rezepte ausfüllen, aber das war es auch“, sagt Funken, der auch Vorsitzender des Hausärzteverbands Nordrhein ist. Die medizinische Grundversorgung sieht er in Rheinbach an der Grenze zu Rheinland-Pfalz durch die Hilfe von außen gesichert. Sorge bereiten ihm aber die Müllberge: „Die wachsen und mit ihnen die Gefahren für weitere Infektionen.“
Organische Stoffe, Lebensmittel oder Metalle seien zusammengekehrt worden, Insekten und Schädlinge könnten angelockt werden. Es drohten Wundinfektionen durch Verletzungen und gerade in der Ahr-Region rechnet der Mediziner aufgrund von verunreinigtem Schlamm und Wasser mit vielen Darmerkrankungen.
Auch das Bundesinnenministerium warnt vor einer steigenden Infektionsgefahr in den Hochwassergebieten wegen verwesender Tierkadaver und steigenden Temperaturen. Es bestehe die Gefahr von Seuchen und Ungezieferbefall, Medikamente fehlten und Blutkonserven drohten knapp zu werden, heißt es in einem internen Papier, aus dem der „Spiegel“ zitiert. Aus Hagen, dem Märkischen Kreis oder dem Rhein-Erft-Kreis ist über auffallend vielen Darmerkrankungen bisher nichts bekannt.
Hausarzt: Nachfrage nach Beruhigungsmitteln steigt
Das Land NRW sorgt sich zudem um die Coronalage. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) kündigte am Donnerstagmorgen zusätzliche Impfstoffe an, auch Impfbusse sollen eingesetzt werden. Hausarzt-Sprecher Oliver Funken will das in Rheinbach und umliegenden Hochwasser-Gemeinden nutzen und nach der Covid-Impfung auch gegen Tetanus impfen lassen. „Wir bereiten das gerade vor.“
Aber auch die psychische Gesundheit der Menschen treibt den Arzt um. „Wir erleben eine verstärkte Nachfrage nach Beruhigungsmitteln“, berichtet Funken von vor Ort. Er zieht den Vergleich zu anderen Katastrophen und auch den beiden Weltkriegen, nach denen der Konsum von Beruhigungsmitteln zugenommen habe. „Die Suchtgefahr ist sehr hoch, weshalb wir solchen Nachfragen eher nicht nachkommen“, sagt Funken. Wichtig seien abklärende Gespräche mit den Betroffenen. „Ich kann die Leute ja verstehen, viele können nicht schlafen, ganze Existenzen sind weg. Aber da muss man mit psychologischer Hilfe ran.“
Klinik arbeitete bis zur Evakuierung ohne Strom weiter
Die klinische Infrastruktur ist ebenfalls vom Hochwasser betroffen. Im Regierungsbezirk Arnsberg meldeten 13 Kliniken Schäden, im Kölner Regierungsbezirk haben drei Häuser ihren Betrieb mindest zeitweise eingestellt. Dazu gehört das Klinikum Leverkusen, dessen Betrieb seit Mittwoch wieder schrittweise aufgenommen wird. Am Marienhospital Erftstadt soll die Notfallversorgung bald wieder aufgenommen werden.
Wioletta Osko ist Pflegedirektorin des St.-Antonius-Hospitals in Eschweiler, das besonders beschädigt und derzeit nicht arbeitsfähig ist. Zwei Untergeschosse mit kritischer Versorgungsstruktur und Nebengebäude waren geflutet. Das Wasser reichte laut Klinikleitung bis zu zwei Meter hoch, auch ein neu angeschafftes MRT war bald hinüber. Weil Notstromaggregate im Keller standen, gab es zeitweise einen totalen Stromausfall. „Wir haben mit Notlichtern auf den Stationen gearbeitet“, sagt Osko. Beatmungsmaschinen auf der Intensivstation konnten durch Notstromaggregate der Feuerwehr abgesichert werden.
Noch vor den Fluten seien alle verfügbaren Pflegekräfte zur Unterstützung des Nachtdienstes und der Patientenversorgung angefordert worden. Und sie kamen. Auch dann noch, als das Gebäude von der Außenwelt abgeschnitten war: Im Feuerwehrboot seien Beschäftigte zum Dienst gekommen, um ihre Kollegen und Kolleginnen abzulösen. „In so einer Nacht wird einem klar, wie sehr man schätzen sollte, was man hat“, sagt Osko.
295 Patienten und Patientinnen waren im Krankenhaus, als es vergangenen Donnerstag evakuiert wurde - umliegende Kliniken nahmen die Erkrankten auf. „Dort ist man nun natürlich sehr stark belastet, weil wir als Versorger wegfallen“, sagt die Pflegedirektorin.
Wann das St.-Antonius-Hospital wieder arbeitsfähig ist, könne sie nicht absehen. Ein entsprechendes Konzept wird laut Bezirksregierung derzeit erarbeitet.„Hier packen alle mit an“, sagt Osko. Die zerstörte Fensterfront im Erdgeschoss werde gerade repariert, der Müll weiter hinausgeschafft. Die Belastung folgt auf die jüngsten Corona-Welle. „Man funktioniert, aber wir funktionieren als Team gut“, sagt Osko.