Essen. Die Pflegereform erntet viel Kritik auch aus NRW. Arbeitgeber, Sozialverband und Angehörige mahnen, zu Hause lebende Pflegebedürftige zahlen.

Es sollte der große Wurf werden, doch die vom Bundestag beschlossene Pflegereform bleibt aus Sicht vieler Fachleute weit hinter den Erwartungen zurück. Im Schulterschluss kritisieren Arbeitgeber der Pflegebranche aus dem Ruhrgebiet, Vertreter pflegender Angehöriger und der Sozialverband VdK das Vorhaben von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) als „Reförmchen“, das vor allem zulasten ambulant versorgter Pflegebedürftiger gehe.

„Das grenzt an Betrug“, sagt VdK-Pflegeexpertin Madeleine Viol. „Jens Spahn ist für eine Pflegereform angetreten und genau das hat er nicht geliefert.“ Zu Hause lebende Pflegebedürftige seien sogar schlechter gestellt und müssten auch noch die Zeche zahlen.

Spahn will Löhne nach Tarif für alle Pflegekräfte

Ein Hauptpunkt von Spahns Reform ist, Pflegekräften Löhne nach Tarifverträgen oder mindestens in entsprechender Höhe zu ermöglichen. Dieser Anspruch findet breite Unterstützung. Kritik gibt es an der Finanzierung der Reform.

1,4 Milliarden Euro der jährlichen Kosten sind über einen Bundeszuschuss und dem Kinderlosenzuschlag gedeckt. Der Verband wirft Spahn vor, weitere 1,8 Milliarden Euro aus anderweitig verplanten Geldern abzuzweigen. So sollen Leistungen aus der Pflegeversicherung bis 2025 nicht mehr regelmäßig angepasst werden.

VdK: Leistungs-Plus für pflegende Angehörige bleibt aus

Der VdK verweist auf einen Bericht der Bundesregierung von Ende 2020, nach dem die Leistungen für Pflegebedürftige um fünf Prozent steigen müssten, um der allgemeinen Preisentwicklung gerecht zu werden. Das Plus stehe seit Jahresbeginn aus und werde mit der Reform beim Pflegegeld und bei der Tages- und Verhinderungspflege auch nicht nachgeholt, so Viol.

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Was das bedeutet, rechnet der VdK vor: Wer zu Hause von seinem Angehörigen gepflegt wird und Pflegegrad drei hat, der hätte 27 Euro mehr Pflegegeld erhalten müssen und 2025 sogar 86 Euro mehr bekommen. Bei der Tagespflege fehlten schon jetzt 65 Euro, bei der Verhinderungspflege 80,60 Euro.

Angehörige haben auf ein zentrales Budget und leichter zugängliche Leistungen gehofft

Dohmeyer spricht von „verlorenen Jahren des Wartens“ für pflegende Angehörige. Dohmeyer pflegt seit 14 Jahren und engagiert sich im Verein „Pflegende Angehörige“. Die Hoffnung sei groß gewesen, dass Unterstützungsleistungen für betroffene Familien insgesamt leichter zugänglich und über ein zentrales Budget flexibler als bisher nutzbar gemacht werden.

Dohmeyer sagt, dass viele Familien Hilfen nicht in Anspruch nähmen, weil diese entweder nicht bekannt seien oder der bürokratische Aufwand sehr groß sei. „Das ganze Ding ist zu kompliziert“, so Dohmeyer, der im Internet Beratung anbietet. „Wir hatten gehofft war, dass sich das der Reform ändert und das System transparenter wird.“ Die Enttäuschung sei groß, dass dies ausgeblieben sei.

Arbeitgeber gehen mit Spahn hart ins Gericht

Selbst dort, wo Leistungen für zu Hause lebende Pflegebedürftige erhöht worden sind, gehen Ruhrgebiets-Arbeitgeber aus der Branche mit Spahn hart ins Gericht. So gebe es zwar mehr Geld für Betroffene, die von einem Pflegedienst betreut werden. Die geplante Erhöhung um 5 Prozent der ambulanten Sachleistungen soll aber künftige Mehrkosten abdecken, die durch höhere Löhne entstehen.

„Die fünf Prozent hätten den Pflegebedürftigen aber ebenfalls bereits zum Jahresanfang zugestanden“, sagt Thomas Eisenreich, einer der Sprecher der Ruhrgebietskonferenz Pflege. „Eigentlich müssten das Plus also doppelt so hoch sein.“

Immerhin: Zu Spahns Reform gehören mehr Geld für Kurzzeitpflege und ein neuer Anspruch auf eine bis zu zehntägige Übergangspflege, wenn im Anschluss an einen Klinikaufenthalt die Pflege im eigenen Haushalt nicht möglich ist. Eine befürchtete Schlechterstellung der Tagespflege ist zudem ausgeblieben.

Warnung: Pflege wird immer teurer

Die Ruhrgebietskonferenz und der VdK warnen davor, dass ambulante Pflege für die Betroffenen zu teuer werde. „Unsere Mitglieder reagieren von sich aus mit Leistungsverzicht, weil sie sich Zuzahlungen nicht leisten können“, sagt VdK-Pflegeexpertin Viol.

Silke Gerling, Prokuristin beim Diakoniewerk Essen und ebenfalls Sprecherin der Ruhrgebietskonferenz-Pflege, nennt eine Folge: „Wenn jemand im ambulanten Bereich Leistungen einspart, wird der körperliche Unterstützungsbedarf bald so groß, dass ein Heimaufenthalt nötig wird“, sagt Gerling. „Wir erleben, dass sich der körperliche Zustand dieser Menschen verschlechtert.“ Der VdK fordert eine Finanzierungsreform für die Pflege und eine Zusammenlegung der privaten und gesetzlichen Pflegeversicherung.

>> Zuschüsse beim Heimaufenthalt helfen ambulant Versorgten oft wenig

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die seit Jahren steigenden Zuzahlungen für den Heimplatz bezuschussen. Die Gelder fließen gestaffelt nach Aufenthaltsdauer und nach dem ersten Jahr in drei Schritten.

Roland Weigel, Koordinator der Ruhrgebietskonferenz, kritisiert, dass lange ambulant versorgte Pflegebedürftige und ihre Familien davon kaum profitieren könnten. „Menschen, die zu Hause mit viel Aufwand möglichst lange gepflegt werden, bleiben in den Heimen oft am kürzesten“, sagt Weigel. Ein Drittel der Heimbewohner verstirbt im Schnitt sieben Monate nach der Heimaufnahme.