Essen. Im Pandemiejahr sind die Fälle häuslicher Gewalt in NRW insgesamt gestiegen. „Corona hat es schlimmer gemacht“, sagt eine Frau, die floh.

Kurz bevor sich das Virus in Deutschland ausbreitete, hatte Lina ein Kind geboren. Sie hatte gehofft, dass ihre Ehe mit diesem Baby anders würde, dass ihr Mann anders würde. Doch dann kam die Pandemie und mit ihr der erste Lockdown, die Isolation. Die eigene Wohnung wurde immer enger für die Drei – eine junge Mutter, ihr Säugling und die Wut ihres Mannes, dem sie immer weniger entkommen konnte.

Die Gewalt, sagt die Mittzwanzigerin, habe nicht mit der Pandemie angefangen. „Aber die Pandemie hat die Dinge schlimmer gemacht.“

Zwei von drei Gewaltopfern in NRW wurden von ihren Partnern angegriffen

Im April hat das Landeskriminalamt ein Lagebericht zur häuslichen Gewalt veröffentlicht. 29.155 Delikte haben die Behörden im Corona-Jahr 2020 erfasst, knapp acht Prozent mehr Fälle als ein Jahr zuvor und ein Vierjahreshoch. Drei Viertel der Gewalttäter sind männlich, es geht vor allem um einfache und schwere Körperverletzung. 4,5 Prozent der Fälle drehten sich um sexuellen Missbrauch von Kindern oder Misshandlungen. Etwa 60 Prozent der Opfer sind von aktuellen oder früheren Lebenspartnern angegriffen worden, mit denen sie in einem gemeinsamen Haushalt lebten.

Lina ist eine Frau hinter dieser Statistik. Der Kontakt zu ihr ist über eines der rund 70 Frauenhäuser in NRW entstanden, in dem sie in den vergangenen zehn Monaten mit ihrem Kind gelebt hat. Lina heißt anders. Weder ihren richtigen Namen noch konkrete Angaben zu ihrer Geschichte sollen hier öffentlich werden. Auch nicht der Name der Stadt, in der sie die Tür zu ihrer gerade bezogenen Dachgeschosswohnung öffnet. Das Kind mümmelt an einem Stück Gurke, während die Mutter ihre Geschichte in fließendem Englisch erzählt.

Häusliche Gewalt betrifft Frauen aus jeder sozialen Schicht

Lina wächst in einer europäischen Großstadt auf. Nach der Schule geht sie zur Uni, schließt ihr Studium der Rechtswissenschaften ab. Ihren Mann habe sie kaum gekannt, als sie heiraten. Er ist einige Jahre älter und berufstätig. Wegen eines Beitrags im Fernsehen, über den sie unterschiedlicher Meinung waren, habe er sie zum ersten Mal geschlagen. „Ich bin der Mann, du bist die Frau“, habe er gesagt, als würde das etwas erklären.

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Am Anfang habe sie noch gedacht, sie könne ihrem Mann helfen. Dann sei sie aus Angst geblieben, mehrere Jahre. Sie folgt ihm in drei Länder. Sie erzählt, wie er ihr Make-up für die blauen Flecken gekauft habe. Wie er sie manchmal eingeschlossen habe. Wie er sie mit Wasser übergossen habe, nachdem sie von einem Würgegriff das Bewusstsein verloren hatte. Er habe oft von Stress auf der Arbeit gesprochen, dass er seine Frau in seiner Wut nicht erkennen würde. Sie sagt, er sei wie ein Tier gewesen. „Für ihn darf ich keine Meinung haben.“ Lina kennt Hilfseinrichtungen, auch Frauenhäuser, doch sie bittet nicht um Hilfe. Geht zu keinem Arzt. Vertraut sich einer einzelnen Freundin an.

Hilfstelefone haben 2020 alle Hände voll zu tun

Rein statistisch wird jede vierte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Betroffen sind Studien zufolge Frauen aus allen sozialen Bereichen.

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Fachleute haben früh gewarnt, dass die Einschränkungen der Pandemie die Gewalt in Familien verschärfen könne. Ein Indiz dafür sind die gestiegenen Anfragen bei Hilfs- und Beratungsangeboten für Frauen. Allein die rund 80 Mitarbeitenden des kostenfrei und anonym zu nutzenden Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“ haben im vergangenen Jahr rund 51.400 Beratungsanfragen erreicht, 15 Prozent mehr als im Vorjahr – der höchste Anstieg seit 2016. Rund 28.400 der Anrufenden waren selbst von Gewalt betroffen.

Frauenhäuser leiden unter chronischer Platznot

In den Frauenhäusern in NRW kommen in der Pandemie indes nicht unbedingt mehr Frauen an. 2020 seien sie so ausgelastet gewesen wie in den Vorjahren, sagt Beatrice Tappmeier vom Bielefelder Frauenhaus und der Landesarbeitsgemeinschaft Autonomer Frauenhäuser NRW. „Auch jetzt sind wir bei einer Auslastung von 90 Prozent.“

Die Häuser beklagen seit Jahren eine chronische Platznot. Zwar hat die Landesregierung zusätzliche Mittel für die 64 landesgeförderten Häuser bereitgestellt und neue Plätze ermöglicht. Aus Sicht der Akteurinnen reicht das aber nicht. Laut Recherchen des Netzwerks „Correctiv“ waren die Frauenhäuser in NRW von November 2020 bis Ende Januar 2021 im Durchschnitt an mindestens sechs Tagen pro Woche voll belegt.

Auch vor diesem Hintergrund sei schwer abzuschätzen, wie viele Frauen mehr hätten kommen können, sagt Tappmeier. „Gerade am Anfang gab es bei Frauen auch Unsicherheiten wegen des Infektionsschutzes und natürlich ergeben sich sehr viel weniger Möglichkeiten zu fliehen, wenn der Partner ständig zu Hause ist.“ Waren Lockdown und Pandemie denn Auslöser für Frauen, Hilfe zu suchen? „Danach frage ich nicht“, sagt sie. „Letztlich gibt es da immer die eine Situation, in der sich die Frauen lösen.“

Die Grenze ist erreicht: Im Sommer kann Lina fliehen

Lina sagt, jeder habe eine Grenze, bis zu der er Dinge ertragen könne. Ihre Grenze sei das Wohl ihres Kindes.

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Sie erzählt nicht viel über die Zeit des Lockdowns. Zu Hause galten Regeln. Sie sagt, sie haben vieles mitgemacht, um ihr Kind zu schützen. „Das ist wie im Krieg“, sagt Lina. „Da stehen sich zwei Parteien gegenüber und du kämpfst.“

Im Juli sieht sie ihr Baby nach einem Angriff im Supermarkt so bedroht, dass sie geht. Ihr Glück sei die Atemschutzmaske gewesen, die sie trug. So habe ihr Mann nicht sehen können, dass sie im Weglaufen Kunden um Hilfe bat. Als die Polizei kam, hielt Lina ihr Baby. Mit ihm wechselte sie zweimal das Frauenhaus, bis sie sich sicher fühlte. Erst dann, sagt sie, sei sie zur Ruhe gekommen.

Zehn Monate sind seitdem vergangen, das Strafverfahren gegen ihren Mann läuft noch. Wie es weitergeht? In ihrer Wohnung sagt Lina, sie müsse ihr Leben neu organisieren. Es gehe darum, was für ihr Kind gut sei. Zieht sie wieder ins Ausland? Bleibt sie? Man könne noch so viel planen, sagt Lina, aber was am Ende passiert, sei dann doch oft etwas anderes.

>> HILFE FÜR GEWALTOPFER

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 08000 116016 und via Online-Beratung unterstützen rund 80 Mitarbeitende rund um die Uhr Betroffene in 18 Sprachen. Auch Angehörige, Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten: www.hilfetelefon.de.