Ruhrgebiet. Stress mit dem Impftermin, Warteschleifen, Missverständnisse, Bürokratie, Unkenntnis: Betroffene berichten über ihre Erfahrungen.
Sie sind zwischen Mitte 70 und Ende 80, und sie haben die Nase voll, fühlen sich „im Regen stehen gelassen“, seit Corona grassiert. Der holprige Impfstart hat vielen das letzte Verständnis genommen. Deshalb haben sie bei unserer Zeitung in großer Zahl angerufen, als wir über die nächste geplante Impfterminrunde berichtet haben, „um dem Ärger Luft zu machen“. Die Redakteure Stephanie Weltmann und Andreas Böhme haben ihnen zugehört und Anrufe protokolliert. Wir veröffentlichen an dieser Stelle einige. Die meisten Anrufer wollten nicht, dass ihr Name hier zu lesen ist.
„Kommunikation funktioniert offenbar gar nicht mehr“
„Ich habe mit großer Freude gelesen, dass die Regeln bei der Priorisierung sich geändert haben. Da habe ich als Vorerkrankter lange drauf gewartet. Ein Attest meines Hausarztes habe ich schon seit Wochen. Schön, habe ich gedacht, jetzt gibt es die erste Impfung vielleicht schon vor Ostern.
Ich habe dann gleich früh am Morgen bei der Stadt und im Impfzeitrum angerufen. In beiden Fällen vergeblich und mit identischer Antwort: ,Wir haben die neuen Regeln noch nicht vorliegen. Wir können Ihnen nicht helfen.’ Wie kann das sein? Die Kommunikation innerhalb der Behörden funktioniert offenbar gar nicht mehr.“ Ein Leser (75) aus Essen
„Ich habe knapp zwei Stunden am Telefon gewartet“
„Meine Frau hat Krebs. Aber weder unser Hausarzt noch ihre Gynäkologin konnten ihr ein Attest über eine Vorerkrankung ausstellen. Sie seien nicht zuständig, sagen sie beide. Ich habe deshalb bei der Kassenärztlichen Vereinigung nachfragen wollen. Von Stelle zu Stelle bin ich weiterverbunden worden, habe immer wieder in Warteschleifen festgehangen.“ Knapp zwei Stunden habe das gedauert, er habe auf die Uhr gesehen. Und als er dann um 12.02 Uhr endlich an der richtigen Stelle gewesen sei, sei eine Ansage gekommen: „Sie rufen außerhalb unserer Bürozeiten an. Bitte versuchen sie es am Montag noch mal.“ „Das ist unfassbar. In den Krankenhäusern arbeiten sie bis zum Umfallen, und in der Verwaltung lassen sie Punkt zwölf den Griffel fallen, als ob nichts wäre.“
Man könne nicht alle über einen Kamm scheren, sagt seine Ehefrau. „Es gibt Leute, die sich auskennen. Ich möchte auch nicht mit den Politikern tauschen. Es ist aber so viel schief gegangen im letzten Jahr. Der Ärger mit den Impfen, das ist ja nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.“ Ein Herner Ehepaar (80/73)
„Wieso geht es bei uns nicht so einfach wie anderswo?“
Vorzeitige Impfungen für Vorerkrankte? Egbert Pottgießer hat nach der Zeitungslektüre angerufen, erst bei der Kassenärztlichen Vereinigung, dann beim Essener Gesundheitsamt. „Nachdem ich dreimal dort angerufen habe, konnte mir niemand zu einer Terminvereinbarung eine Antwort geben“, sagt der 73-Jährige. Es gehe gar nicht um ihn, sondern um seine Frau, die eine Lungenerkrankung habe.
Er könne diese Unklarheit nicht nachvollziehen, sagt Pottgießer. „Wenn das Land etwas verkündet, sollten die Städte zumindest über die Vorgehensweise Auskunft geben können.“ Er hat sich selbst geholfen, Erlasse des Landes gelesen und geprüft, wie andere Kommunen vorgehen. „In einem Landkreis müssen Vorerkrankte online nur einen Button anklicken, das ist alles. Wieso geht das bei uns nicht?“
„Wir brauchen einen strengen Lockdown.“
„Ich bin 77, meine Frau ist 83 und wird demnächst geimpft. Ich habe deshalb im Impfzentrum angerufen und gefragt, ob ich dann nicht gleich mitgeimpft werden kann. Das kann ich nicht, weil das angeblich nur geht, wenn derjenige, der geimpft werden soll, 79 Jahre alt ist, hat eine Krankenschwester gesagt. Ich glaube aber, dass sie was falsch verstanden hat.“
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Viele Regeln seien ja auch ganz unverständlich formuliert, findet seine Frau. „Heute hü und morgen hott. Mal sind die Schulen zu und die Geschäfte geöffnet, dann ist es wieder umgekehrt. Man weiß ja bald gar nicht mehr, was man darf und was nicht.“ Natürlich halte sie sich an die Vorschriften. „Auch weil wir Angst vor dem Virus haben. Lebensmittel einkaufen ist seit Monaten die einzige Abwechslung.“ Die will sie sich auch nicht nehmen lassen. „Aber das kann doch nicht ewig so weiter gehen.“
Ihr Mann stimmt ihr zu. Natürlich, räumt er ein, habe man als Rentner leicht reden, „weil es anders als bei den Geschäftsleuten nicht mehr um unsere Existenz geht“. Wir kommen finanziell ja zurecht. Aber die Maßnahmen müssen härter werden, wir brauchen einen strengen Lockdown.“ Ein Ehepaar (83/77) aus Witten
„Wir hängen immer noch total in der Luft.“
Kathrin B. aus Essen will gar nicht klagen. Sie sagt, dass es ihr und ihrem Mann gut gehe, dass sie das Beste daraus machten, seit über einem Jahr regelrecht isoliert zu leben. Wären da nur nicht diese ständigen Ankündigungen: „Man macht uns immer wieder neue Hoffnungen, und dann trifft etwas doch genau auf einen selbst nicht zu. Das ärgert mich und es lässt einen resignieren“, sagt die 70-Jährige, die lungen- und herzkrank ist.
Gleich nach dem Erlass des Landes, nach dem Städte Vorerkrankte vorzeitig impfen könnten, habe sie sich ans Telefon gesetzt, das Impfzentrum, das Gesundheitsamt, schließlich das Bürgeramt angerufen. Einen Impftermin gab es nicht: „Ich habe es dann beim Hausarzt probiert. Dort wusste man auch zum regulären Impfstart für Vorerkrankte noch nichts. Wir hängen immer noch total in der Luft.“
Kathrin B. mühte sich wiederholt um einen zügigeren Impftermin. Sie probierte es mit einem Härtefallantrag, zeigte sogar in einem Impfzentrum ihr Attest vor. „Ich habe eine Dame dorthin begleitet, die ich seit vielen Jahren betreue.“ Die dortige Impfärztin sei verständnisvoll gewesen, habe aber mit Blick auf die rechtliche Lage eine Impfung außer der Reihe abgelehnt. „Das verstehe ich ja, aber so verzweifelt ist man manchmal.“
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Was B. wunderte: Vor Ort habe sie erfahren, dass an diesem Tag zahlreiche Impflinge zuviel aufgetaucht seien. Termine seien doppelt vergeben worden. „Ein Arzt sagte mir, dass trotzdem jeder geimpft werde. Impfstoff ist also offenbar da.“
Was hat man uns nicht schon alles versprochen“
„Ich bin 84 und schon geimpft, aber das ist schlecht gelaufen. 40 Minuten musste ich im Regen vor dem Impfzentrum warten. Warum kommt niemand auf die Idee, da mal ein kleines Zelt aufzustellen? Aber das ist typisch.“ Sie habe ja schon einiges erlebt, „war ja nicht immer alles Gold in diesem Land“. Kriegsende, Hungerjahre, Ölkrise. „Das war alles schlimm, manches schlimmer als Corona. Aber irgendwann ist immer einer gekommen und hat gesagt, wo es langgeht. Dieses Mal nicht.“
Sie wolle nicht viel. Nicht verreisen, keine Partys feiern. „Ich wäre ja schon glücklich, wenn ich mit meiner Freundin im Café ein Stück Kuchen essen könnte.“ Und vielleicht auch mal wieder unbeschwert einkaufen. Neue Bluse, neue Schuhe. „In diesem Internet mache ich das nicht so gerne.“
Ihr Ehemann ist 79, demnach bald an der Impf-Reihe. „Ich glaube das erst, wenn es passiert ist. Was hat man uns nicht schon alles versprochen und am Ende dann doch nicht gehalten. Mein Vertrauen in die Politik ist jedenfalls völlig verschwunden.“ Ein Ehepaar (84/79) aus Dortmund