Essen. Experten verlangen mehr Tempo bei Impfstoffentwicklung für junge Menschen. Nur so sei eine Herdenimmunität rasch zu erreichen

Die Kinderärzte in NRW machen Druck. Angesichts steigender Infektionszahlen fordern sie, dass auch Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren gegen Covid-19 geimpft werden. Derzeit werden zuerst ältere Menschen und Risikogruppen geimpft. Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) dringt indes auf eine schnellere Impfung junger Menschen. Die Anstrengungen bei der Entwicklung eines Impfstoffs für diese Altersgruppe müssten massiv verstärkt werden.

„Kinder sind die großen Verlierer der Pandemie. Daher ist es wichtig, dass es einen adäquaten Impfstoff für sie gibt“, sagt der Kinderarzt Axel Gerschlauer, Sprecher des BVKJ Nordrhein. „Wir Kinderärzte hätten diesen Impfstoff lieber heute als morgen“, so Gerschlauer. Erst wenn auch diese Altersgruppe geimpft sei, könne man die anvisierte Herdenimmunität erreichen und die Bevölkerung schützen, denn auch Kinder könnten das Virus weitergeben.

Covid-Impfungen von Minderjährigen nicht vorgesehen

Zwar würden bei Kindern die meisten Sars-Cov-2-Infektionen glimpflich verlaufen. Doch die Ärzte sind vor allem um Kinder und Jugendliche mit Vorerkrankungen besorgt, die zum Beispiel an schwerem Asthma, an Herz- oder Lungenerkrankungen leiden. Für manche von ihnen könne eine Corona-Infektion lebensbedrohlich sein, sagt Folke Brinkmann, Oberärztin und kommissarische Leiterin der Abteilung Pädiatrische Pneumologie an der Universitätskinderklinik Bochum. „Für diese Patienten freuen wir uns, wenn wir sie impfen können.“

Impfungen von Minderjährigen sind allerdings in der Impfverordnung noch nicht vorgesehen. Zudem steht derzeit auch noch kein zugelassener Impfstoff für unter 16-Jährige zur Verfügung. Die Studien sind aufwändiger und die Entwicklungskosten höher, da für jede Altersgruppe eine Dosierung ermittelt werden muss. Doch Pharmaunternehmen wie Biontech/Pfizer und Moderna haben bereits Studien mit Minderjährigen begonnen. Folke Brinkmann erwartet daher, dass ein geeignetes Vakzin bereits in diesem Herbst zur Verfügung stehen könne.

Ärztin: Corona-Infektion auch für junge Menschen nicht harmlos

„Wenn es einen getesteten und zugelassenen Impfstoff gibt, sollten wir ihn auch Kindern anbieten“, betont Folke Brinkmann. Zwar seien die Krankheitsverläufe bei jungen Menschen in den meisten Fällen weniger schwer, „aber es ist nicht so, dass Covid-19 für Kinder harmlos ist“. Es gebe sogar bereits einige wenige Todesfälle unter Kindern, bei denen nach einer Corona-Infektion ein massives Entzündungssyndrom (Pims) aufgetreten sei. Auch Langzeitfolgen seien bereits beobachtetet worden.

Wie die Kinderklinik Bochum unterstützt auch Prof. Jörg Dötsch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln, die Forderung nach Impfungen: „Sowohl im Hinblick auf den Individualschutz als auch im Hinblick auf den Bevölkerungsschutz besteht die Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren so bald wie möglich gegen Covid-19 zu impfen.“

"Manche Eltern sind verzweifelt"

Axel Gerschlauer will das nicht verstehen: Gegen Masern, Mumps, Röteln, Keuchhusten und Polio impft er die Kinder in seiner Bonner Praxis – nur nicht gegen Corona. Dass es bislang keinen Impfstoff für unter 16-Jährige gibt, macht den Kinderarzt sauer. „In meiner Praxis erlebe ich jeden Tag Eltern von schwer vorerkrankten Kindern, die verzweifelt sind und Angst haben. Manche gehen seit Monaten nicht mehr vor die Türe.“

Es sind Eltern von Kindern, die einen Herzfehler haben, Lungenprobleme oder eine Behinderung. Manche von ihnen seien zu schwach, um kräftig zu husten, wenn sie erkältet sind. „Diese Gruppe ist bei den Corona-Maßnahmen bisher vergessen worden“, klagt er. Die Bundesregierung habe nicht genug Druck auf die Pharmafirmen ausgeübt, vermutet er. „Die Stimmen, die eine Impfung für Kinder fordern, werden aber jetzt lauter“, sagt Gerschlauer. „Und das freut uns unglaublich.“

Pharmaunternehmen haben Studien gestartet

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte erhöht seit Wochen den Druck auf die Politik und beklagt, dass die Zulassung eines Impfstoffs für junge Menschen in dem Chaos um die Impfstoffknappheit aus dem Blick geraten sei. Familien mit Kindern dürften nicht diskriminiert werden, weil der Nachwuchs keine Chance auf eine rechtzeitige Impfung habe, sagte Verbandspräsident Thomas Fischbach. „Das wäre eine krasse und unzulässige Ungleichbehandlung.“

Einige Pharmaunternehmen haben unterdessen Studien gestartet, um die Verträglichkeit der Vakzine für Kinder ab zwölf Jahren zu prüfen. Wann die Zulassung von speziellen Corona-Impfstoffen beantragt werden könne, ist derzeit noch unklar. Kinder werden aus ethischen Gründen nicht als freiwillige Testpersonen in die Entwicklung eines Impfstoffs einbezogen, denn ein junger Organismus reagiert anders auf die Inhaltsstoffe als ein erwachsener Körper. Erst wenn genügend Daten aus den Tests mit Erwachsenen vorliegen, werden bei einer Impfstoffentwicklung auch Kinder einbezogen.

Impfung hemmt Übertragung des Virus

Manche Mediziner führen auch ethische Aspekte an: Kinder gegen Covid-19 zu impfen sei zunächst einmal „fremdnützig“, sagte Prof. Fred Zepp, Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko), der Ärztezeitung. Denn junge Menschen zeigten deutlich seltener schwere Krankheitsverläufe. „Wir würden Kinder also vor allem impfen, um Ältere zu schützen.“ Daher müsse hinterfragt werden, ob das -- abgesehen von Kindern mit besonderen Infektionsrisiken -- ethisch vertretbar sei.

Andere Experten verweisen darauf, dass nur dann möglichst schnell eine Herdenimmunität erreicht werden könne, wenn auch Menschen unter 18 Jahren geimpft werden – immerhin fast 20 Prozent der Bevölkerung. Neue Studien aus Israel und Großbritannien unterstützen das Argument. Sie zeigen, dass Geimpfte nicht nur gegen schwere oder tödliche Krankheitsverläufe mit Covid-19 geschützt sind, sondern zu einem großen Anteil auch vor Infektionen. Das bedeutet: Eine Impfung scheint auch die Übertragung des Virus zu verhindern und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur angestrebten Herdenimmunität. Wegen ihrer vielzähligen Kontakte in Kitas und Schule spielen Kinder als Krankheitsüberträger eine nicht unerhebliche Rolle.

Kinder mit Vorerkrankungen besonders gefährdet

Ein weiterer Aspekt, der die Forderungen nach einer Impfung lauter werden lässt, ist der Individualschutz für Kinder und Jugendliche. „Zwar sind die akuten Krankheitsverläufe bei Kindern nicht sehr häufig schwer und mit Krankenhausaufenthalten verbunden, jedoch ist die überschießende Immunreaktion bei einigen Kindern und Jugendlichen durchaus Grund zur stationären Aufnahme und zur Behandlung“, sagt Prof. Jörg Dötsch, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Uniklinikum Köln. „Das könnte durch eine Impfung vermieden werden.“

Vor allem Kinder mit Vorerkrankungen benötigten die Impfung dringend, betont Folke Brinkmann, Oberärztin an der Universitätskinderklinik Bochum. „Wir betreuen Kinder und Jugendliche mit schweren Lungenerkrankungen, mit Herzfehlern, mit multiplen Behinderungen oder schweren Muskelerkrankungen. Diese Kinder würden von einer Impfung profitieren.“ Kinder mit Vorerkrankungen sollten daher auch in die Impfstudien einbezogen werden.

Mehr Infektionen bei jungen Menschen

Mediziner beobachten zudem in den letzten Monaten eine Zunahme der Corona-Infektionen bei Jugendlichen und Schulkindern. „Es ist nicht auszuschließen, dass sich das Virus zukünftig auch in der Gruppe der Kleinkinder effektiver verbreiten kann“, sagte Prof. Johannes Liese vom Uniklinikum Würzburg dem Recherchebüro Science Media Center. Auch dies spreche für eine möglichst baldige Impfung junger Menschen.

Als Kinderarzt sieht sich Axel Gerschlauer in seiner Praxis quasi an der Front bei der Bekämpfung der Corona-Infektionen. „Einen Impfstoff würden wir Kinder- und Jugendärzte mit Hurra begrüßen!“