Ruhrgebiet. Wer ist wann dran, fragen die Menschen – und erfahren es nicht. Die neueste Anpassung der Impfreihenfolge, so ein Jurist, könne gar Leben kosten.

Seit Dezember wird geimpft. Der Bundesgesundheitsminister erklärte damals, das bringe endlich „Licht ans Ende des Tunnels“ in diesen schweren Zeiten der Corona-Pandemie. Doch drei Monate später, in dieser Woche, da die jüngste „Anpassung“ der Impfverordnung in Kraft tritt, tappen Familie S. aus Duisburg oder Susi F. aus Dortmund – wie viele andere – noch immer im Dunkeln.

Manfred S. ist 65 und Diabetiker, 2015 hatte er einen Schlaganfall, eine Schwerbehinderung von 70 Prozent ist anerkannt. Seine Frau Waltraud (70) erkrankte 2004 an Brustkrebs, ist zu 50 Prozent schwerbehindert. „Wann werden wir geimpft“, fragte sich das Duisburger Paar – und suchte nach Antwort. Fand aber keine. In seiner Not schrieb es Duisburgs OB Sören Link an.

„Ich blicke überhaupt nicht mehr durch“

Auch Susi F. aus Dortmund blickt nicht mehr durch. Die 73-Jährige „mit allen möglichen Vorerkrankungen von Niere bis Schlaganfall“ ist „stinksauer“, die Regierung habe komplett versagt, findet sie. „Man weiß überhaupt nicht mehr, was Sache ist. Dabei möchte ich doch, bitte schön, nur so schnell wie möglich geimpft werden.“ Um die Enkelkinder wieder sehen zu können; die krebskranke Tochter besuchen zu dürfen; oder die eine, die sie überhaupt noch treffen, nicht immer auf der Terrasse empfangen zu müssen.

Manfred S. vermisst die Proben und Auftritte mit seiner Rockband, seine Frau ihren Reha-Sport. Doch das ist nicht das Thema: „Es geht uns soweit gut, wir haben keine Symptome“, sagt S.. „Aber wir haben große Angst vor einer Ansteckung, davor, irgendwann auf dem Bauch im Krankenhaus zu liegen.“ Zwei Tage pro Woche müsse er ins Büro; außer Haus gehen er und seine Frau – wie Susi F. -- ansonsten nur noch, um Lebensmittel einzukaufen. Mit Impfung würden sich alle drei deutlich sicherer fühlen. Deshalb wollen sie wenigstens wissen: Wann sind wir an der Reihe?

Kita-Personal, Lehrer und Polizisten „hochgestuft“

Ab April impfen auch wohl auch Hausärzte in  NRW gegen Corona, das Bild zeigt ein Pilotpraxis in Bayern.
Ab April impfen auch wohl auch Hausärzte in NRW gegen Corona, das Bild zeigt ein Pilotpraxis in Bayern. © dpa | Nicolas Armer

Doch wer wann dran ist, ist nicht leicht zu beantworten. Es hängt von der Menge des zur Verfügung stehenden Impfstoffs ab, von den Impfkapazitäten und von der Priorisierungsgruppe, der man möglicherweise zugerechnet wird. NRW hat die bisher gültige Reihenfolge gerade erst angepasst, einige Personengruppen hochgestuft. Deshalb werden ab dieser Woche auch Kita-Personal, Tagesmütter, Grund- und Förderschullehrer sowie Polizisten (Einsatzhundertschaften) geimpft – sogar als erste der Gruppe 2 (hohe Priorität). Bis März gehörten sie noch zur Gruppe 3 (erhöhte Priorität). Andere auf der Liste geraten dadurch logischerweise ins Hintertreffen, solange Impfstoff Mangelware ist.

„Man fühlt sich so ohnmächtig“, sagt Susi F., obgleich sie die neuen Prioritäten richtig findet. „Man schöpft immer wieder Hoffnung und wird doch enttäuscht.“

„Leider ist das Ganze ein wenig kompliziert...“

„Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass andere früher dran sind als wir“, erklärt Manfred S. „Aber uns ist gar nicht mehr klar, in welcher Gruppe wir inzwischen angekommen sind.“ „Momentan haben wir den Eindruck, wir fallen durch jegliche Raster“, schrieb er seinem OB.

Das Gesundheitsamt schickte sehr schnell eine sehr freundliche Antwort. „Nun bin ich ein bisschen schlauer“, freut sich S., nun wisse er sicher, dass er und seine Frau zur Priorisierungsgruppe 2 zählen, die zu impfen gerade begonnen wurde, und dass der Hausarzt womöglich für eine Härtefallregelung ein Attest ausstellen könne – aber er wisse noch immer nicht, wann sie „wirklich dran sind“. Gruppe 2 sei ja sehr groß. „Leider ist das Ganze ein wenig kompliziert...“, endet der nette Brief vom Amt.

Schreiben wie das von Manfred S. erklärt Anja Kopka, Sprecherin von OB Sören Link, „erreichen uns täglich.“ „Wir würden uns oft mehr Zeit zur Vorbereitung von Ankündigungen wünschen“, räumt sie ein. Denn in den Kommunen „muss am Ende geliefert werden“ und die Menschen seien nach einem Jahr Pandemie „erschöpft von immer neuen Regelungen“.

Stiko-Chef: Keine Impfvergaben nach Gutsherrenart

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Andere finden die jüngste Anpassung der Impfverordnung nicht nur verwirrend: Die „Sub-Priorisierung“ in der zweiten Priorisierungsgruppe fuße „rechtlich auf extrem dünnem Eis“, meint etwa der Bonner Arzt und Jurist Dr. Helge Kolvenbach. In einem Schreiben an Landesgesundheitsminister Laumann legt der 64-Jährige seine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Erlasses vom 1. März dar. Er fordert, alle Impfberechtigten der Gruppe 2 gleichrangig und gleichzeitig zu impfen. Stiko-Chef Thomas Mertens hatte schon im Februar, als bekannt wurde, dass Lehrer und Erzieher früher bedacht werden, vor einer „Vergabe der Corona-Impfungen nach Gutsherrenart“ gewarnt. Alena Buyx, Vorsitzende des Ethikrates, reagierte mit „Bauchschmerzen“ auf die Nachricht.

„Mir fehlt jedes Verständnis dafür, dass Menschen über 70 oder Schwerkranke womöglich erst im Mai geimpft werden“, erklärt Kolvenbach. Mit der alten Impf-Reihenfolge hätte der Herz-Thorax-Chirurg und Medizinrechtler „gut leben können“ – auch wenn er sich gewünscht hätte, dass man sie im Parlament diskutiert und „so auf eine solide gesetzliche Grundlage“ gestellt hätte. Doch nun sei der bisherige Grundsatz „Die Schwächsten sofort zu impfen“ mit einem Federstrich einfach beiseite geschoben worden.

Jurist: Eklatante Ungleichbehandlung zuungunsten der Schwachen

Starke Lobbyisten wie die GEW steckten dahinter, glaubt Kolvenbach, die Änderung der Impfverordnung sei „eine rein politische Entscheidung“. „Für die Annahme, dass Kitas oder Grundschulen eine besondere Rolle in der Pandemie-Dynamik spielten, fehlt bisher jeglicher wissenschaftlicher Beweis“, heißt es in seinem Schreiben ans MAGS. Betagte und schwerst kranke Menschen, Personen mit Trisomie 21, Mukoviszidose oder Organtransplantierte etwa, nun wochen- oder sogar monatelang auf die Impfung warten zu lassen, sei „weder nachvollziehbar noch vertretbar“. „Das kann den einzelnen das Leben kosten“, fürchtet der Arzt.

Kolvenbach betont, es gehe ihm nicht darum, „ErzieherInnen, GrundschullehrerInnen und PolizistInnen den Impfstoff vorzuenthalten“, aber er wehre sich gegen eine „eklatante Ungleichbehandlung“ nach dem „Nützlichkeitsprinzip“ zuungunsten der Schwachen. Prozesse, denkt er, werden nicht lange auf sich warten lassen. Die ersten Klagen lägen schon vor, bestätigt Heiko Haffmans, Pressesprecher des MAGS. Doch er betont auch: „Es wurde an keiner vorher festgelegten Impfpriorisierung gerüttelt.“ Der neue Erlass definiere lediglich erstmals die Impfpriorisierung für Gruppe 2. Aufgrund der derzeit noch nicht ausreichenden Menge an Impfstoffen könnten eben „erst nach und nach alle, die wollen, geimpft werden“.

Helge Kolvenbach überlegt auch selbst, mit seinem Anliegen vor Gericht zu gehen. „Die Erfolgsaussichten“, meint er, „sind sehr gut.“ Bekäme er Recht: Wäre wieder eine „Anpassung“ der Impfordnung fällig.

>>>>> INFO: Die Impfreihenfolge

Die jüngste Anpassung der Impfreihenfolge hatte auch mit dem unerwartet zur Verfügung stehenden Astrazeneca-Impfstoff zu tun. Die Stiko hatte ihn zunächst nur für die Unter-65-Jährigen empfohlen. Am 3. März gab sie ihn auch für Ältere frei.

Anfang April soll die Impfung chronisch Kranker durch die Hausärzte beginnen. Einige Vorerkrankte (etwa Diabetiker mit einem HbA1c-Wert über 7,5 wie Manfred S. oder Adipöse mit einem BMI über 40 und bestimmte Krebspatienten) wanderten ebenfalls von Prio-Gruppe 3 in Gruppe 2.

Über-70-Jährige sind laut MAGS „spätestens im Mai 2021“ an der Reihe.