Düsseldorf. 2017 wurde die Software “ViVA“ bei der NRW-Polizei eingeführt. Viele Polizisten ärgern sich täglich über sie: “Es ist ein Lebenszeitfresser.“

 „Spannend und verantwortungsvoll“ ist der Polizeiberuf, suggeriert das Bewerbungsportal „Genau mein Fall“ der NRW-Polizei. Interessierte träumen von anspruchsvollen Einsätzen, von der Arbeit im Team und einem krisenfesten Arbeitsplatz. Auf einen Gedanken dürften sie aber nicht kommen, weil er im Krimi und in der Polizei-Vorabendserie konsequent ausgespart wird: Dass manch ein Polizist während seiner täglichen Arbeit am Computer vor lauter Zorn in die Tischkante beißen möchte. Denn die Polizei-Standard-Software „ViVA“ steckt seit ihrer Einführung im Jahr 2017 voller Tücken.

„ViVA“ steht für „IT-Verfahren zur integrierten Vorgangsbearbeitung und Auskunft“. Sprachkenner sollten „ViVA“  nicht leichtfertig mit „Es lebe“ übersetzen. „Es nervt“ trifft es eher, erzählen Polizisten. Die Software stürzt so manchen Beamten in die Verzweiflung. „ViVA“ sollte die Eingabe aller Daten, die im Polizeialltag anfallen, zum Beispiel nach einem Verkehrsunfall oder bei einer Anzeigenaufnahme, einfacher machen und einen leichten Datenaustausch zwischen Behörden ermöglichen. Aber Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander.

ViVA und der tragische Fall Amad A. 

Der Öffentlichkeit wurde „ViVA“ im Zusammenhang mit dem Fall des unschuldig eingesperrten und verbrannten Syrers Amad A. bekannt. Ein Kommissar hatte im vergangenen Jahr im Untersuchungsausschuss des NRW-Landtags von „massiven Problemen“ mit dem Programm erzählt.

Besonders der Umgang mit Alias-Personalien und die Zusammenführung von Personen-Datensätzen sei problematisch gewesen. Es seien von „ViVA“ wiederholt Verknüpfungen von Personen angezeigt worden, bei denen es abwegig gewesen sei, eine Identität anzunehmen. Umgekehrt habe es von einer Person auch einmal zwei Kriminalakten unter zwei verschiedenen Namen gegeben.

Inzwischen wurde „ViVA“ mehrfach überarbeitet, was solche Fehler unwahrscheinlicher macht. Geblieben ist der schlechte Ruf der Software als „Lebenszeitfresser“. Ein Beamter erzählt, dass sich mit „ViVA“ eine normale Strafanzeige schon mal über sieben Seiten erstreckt.

"Früher wurde gefahndet, heute wird mehr verwaltet"

„Ich bin seit 40 Jahren Polizist. Der Büro-Alltag wird leider immer komplizierter. Früher hatten wir mehr Gelegenheit zur Fahndung, heute wird immer mehr verwaltet“, ärgert sich ein Kommissariatsleiter. „Man muss als ViVA-Nutzer den Eindruck haben, dass hier eine eierlegende Wollmilchsau erfunden werden sollte, ein Instrument für alles. Herausgekommen ist ein unglaublich kompliziertes Werkzeug.“

„ViVA“ löse eine Datensammelwut aus, von der der Anwender selbst zunächst wenig habe. „Es gibt viele Pflichtfelder, die ausgefüllt werden müssen. Fehler werden aber erst ganz zum Schluss bei der Plausibilitätsprüfung bei der Kripo-Sachbearbeitung sichtbar. Falsche Einträge können dann aber nicht so einfach korrigiert werden, denn wer einträgt, hat grundsätzlich das Autorenrecht“, berichtet der Beamte. Es müsse oft derjenige den Fehler korrigieren, der ihn begangen habe, sodass an Vorgängen immer wieder die vorherigen Bearbeiter beteiligt werden müssten.

Der Kommissariatsleiter nennt aber auch einen Vorteil von „ViVA“: Die Einmaligkeit der Daten. Die Mehrfach-Erfassung von Daten werde wird damit weitgehend überflüssig.

Datenbanken müssen gefüttert werden – das kostet Zeit

Um etwa 25 Prozent habe durch das Programm die zeitliche Belastung für die Sachbearbeitung der Kripo, aber auch für viele Beamte im Streifendienst zugenommen. Speziell bei der Kripo müssten zusätzlich bundesweite Datenbanken des Bundeskriminalamtes sowie europäische Datenbanken gefüttert werden.

Der Beamte sagt: „Diese Schnittstellen funktionieren in NRW nicht direkt. Stattdessen muss die Sachbearbeitung die zu übertragenden Vorgänge zusätzlich manuell nachbearbeiten und das dauert pro Fall 15 bis 45 Minuten extra.“

„Die Einführung von ViVA vor drei Jahren war alternativlos“, findet Michael Mertens, NRW-Vositzender der Polizeigewerkschaft GdP. Der Viva- Vorgänger „IGVP“ sei völlig veraltet gewesen. Dafür ist Viva nun viel komplizierter.

„Wenn ein Kollege ,ViVA‘ sehr gut beherrscht, braucht er für eine Eingabe doppelt so viel Zeit wie früher, sonst dauert es dreimal so lange“, so Mertens. Bei der Ersterfassung eines Falls müssten sehr viele Daten eingegeben werden. Das erleichtere zwar später die Arbeit, sei aber zu Beginn extrem aufwändig. ",ViVA‘ hilft zudem, über eine Plausibilitätsprüfung Buchstabendreher und Falscherfassung von Namen zu verhindern. Das ist gut, damit Personen nicht aus Versehen unter zwei verschiedenen Namen geführt werden und Vorgänge nicht zugeordnet werden können. Aber auch das kostet Zeit“, erklärt GdP-Landeschef Mertens.

Beschwerde-Brief an Innenminister Herbert Reul

Die Gewerkschaft GdP hat vor gut einem Jahr NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) schriftlich aufgefordert, das Problem „ViVA“ zur Chefsache zu machen: „Vor dem Hintergrund der gestiegenen Arbeitsbelastung der Polizei zum Beispiel durch die Terror- Gefährdung, die Clan-Kriminalität und den Ermittlungen wegen Kinderpornografie ist das ein nicht hinnehmbarer Zustand.“ Die Software müsse besser werden, zusätzliches Personal müsse her. Reul stellte Hilfe in Aussicht.

Besonders die Kriminalpolizei leidet unter „ViVA“. Oliver Huth, stellvertretender NRW-Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter  (BDK) hat den Eindruck, dass hier eine Software für Polizisten ohne Beteiligung von Polizisten erarbeitet wurde. „Die Erfassung einer Anzeige von Körperverletzung dauert mit Viva etwa 40 statt 20 Minuten. Es tauchen bei einer größeren Eingabe zehn bis 20 Fehlermeldungen auf, allerdings erst am Ende und ohne genaue Hinweise, an welchen Stellen die Fehler passiert sind“, sagt Huth. Komplexe Recherchen der Kripo seien mit Viva viel komplizierter geworden und erforderten eine aufwändige Schulung im Lehrgang. „Dabei sind solche Recherchen unser Handwerkszeug. Sie müssten mit einer Polizei-Software einfacher sein.“

Das NRW-Innenministerium verspricht: "ViVA wird bald besser"

Mit aktuellen Version 2.1 von „ViVA“, eingeführt im Februar 2019, verfügten die Polizisten über ein IT-System, das „die Anforderungen an die zukünftigen digitalen Herausforderungen erfüllen kann“, meint das NRW-Innenministerium. Die Arbeit damit sei zwar komplex, führe aber am Ende zu Arbeitserleichterungen und Verknüpfungen zu anderen IT-Systemen.

Das Innenministerium nehme die Kritik der Anwender sehr ernst, versichert eine Sprecherin. Viele Fehler seien schon behoben worden. Im Jahr 2020 habe es neun Updates mit insgesamt 2481 Verbesserungen, Korrekturen und Erweiterungen gegeben, in diesem Jahr gebe es ein weiteres Update, vier weitere seien geplant. Allein 2021 werde es 814 Verbesserungen, Korrekturen sowie neue Funktionen für „ViVA“ geben.    

Geplant sei außerdem eine komplett digitale Asservatenverwaltung bei „ViVA“, die das Asservatenbuch ablöse. Ein weiterer Vorteil: Die verbesserte digitale Zusammenarbeit zwischen Polizei und Justiz.

Diese Software wird auch auf Dienst-Smartphones genutzt

Und neben der Desktop-Anwendung nutzen die NRW-Polizisten laut Innenministerium auf ihren bisher rund 22.000 Dienst-Smartphones die mobile Variante von „ViVA“ (mViVA).

Michael Mertens von der GdP sieht, dass sich das Ministerium um Verbesserungen bemüht: „Es ist Drive reingekommen in dieses Thema. Aber das reicht noch nicht.“

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