Düsseldorf. Die Corona-Inzidenzwerte stagnieren seit einigen Tagen. Bremsen Mutationen die positive Entwicklung in NRW? Wie Experten die Zahlen bewerten.

Während seit den Bund-Länder-Gesprächen intensiv über den Inzidenzwert 35 geredet wird, der weitere Lockerungen der Corona-Maßnahmen ermöglichen soll, sinkt der NRW-weite Wert seit Tagen nicht mehr und liegt weiter oberhalb von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche.

Mediziner und Gesundheitsbehörden sind besorgt, warnen aber vor eiligen Schlüssen. „Die Zahlen des Robert-Koch-Institutes (RKI) zeigen zwar eine Stagnation des Inzidenzwertes in NRW, aber es ist noch zu früh, daraus eine Entwicklung abzulesen. Wir sollten noch bis zum Wochenende warten, um den Trend zu bewerten, weil erfahrungsgemäß Verzögerungen bei der Übermittlung möglich sind“, sagte Prof. Ulf Dittmer, Virologe an der Uniklinik Essen, dieser Redaktion.

Der Inzidenzwert in NRW stagniert laut den vom RKI übermittelten Zahlen seit dem 12. Februar. Am Mittwoch lag er bei 56. Dass Virus-Mutationen dafür ursächlich sind, ist laut Dittmer „nicht ausgeschlossen“.

Spahn: Anteil der Mutationen steigt auf 22 Prozent

Prof. Stephan Ludwig, Virologe an der Uniklinik Münster, warnt ebenfalls vor Schnellschlüssen. „Es könnte aber sein, dass das Absinken der Corona-Fallzahlen zu etwas mehr Sorglosigkeit in der Bevölkerung geführt hat. Alarmierender wäre es, wenn die Entwicklung des Inzidenzwertes auf die Virus-Varianten zurückzuführen sein sollte“, so Ludwig.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte am Mittwoch erklärt, dass sich die ansteckenderen Varianten des Coronavirus in Deutschland schnell ausbreiten. Innerhalb von nur zwei Wochen sei der Anteil der in Großbritannien entdeckten Mutationen in Deutschland von sechs auf 22 Prozent gestiegen. „Der Anteil der britischen Mutationen verdoppelt sich jede Woche“, warnte Spahn.

Virologe: "Der falsche Zeitpunkt, um über weitere Lockerungen zu reden"

Virologe Ulf Dittmer kann diese Zahlen allerdings für Essen nicht bestätigen. „Wir haben mehr als 600 positive Tests auf Mutanten untersucht und stellen aktuell einen sehr stabilen Wert von rund fünf Prozent fest“, sagt er. Laut der Uniklinik Münster handelt es sich bei gut neun Prozent der positiven Abstriche auf SARS-CoV-2 in NRW um eine Infektion mit einer der drei zurzeit bekannten besorgniserregenden Varianten.

Stagnierende oder sogar steigende Inzidenzwerte gibt es nicht nur in NRW, sondern auch in Thüringen, Sachsen und anderen Bundesländern. Dahinter die sich weiter ausbreitenden Virus-Mutationen zu vermuten, ist laut Minister Spahn derzeit „spekulativ“. Der Trend in Teilen Ostdeutschlands dürfte wohl auch etwas mit der Nähe zu Tschechien zu tun haben, wo das Infektionsgeschehen noch ernster ist als in Deutschland.

Angesichts der vielen offenen Fragen zum Infektionsgeschehen sagt Prof. Ludwig: „Es ist der falsche Zeitpunkt, um über weitere Lockerungen zu reden.“

Laut einer Studie der Uniklinik Münster verbreiten sich die als ansteckender geltenden Corona-Mutanten in den Ballungsräumen in NRW deutlich stärker als auf dem Land. Auch die Grenzregion zu den Niederlanden sei weniger betroffen, teilte das NRW- Gesundheitsministerium am Mittwoch mit.

Trend bei den Inzidenzwerten dämpft die Hoffnung auf weitere Lockerungen

Muss man sich also große Sorgen machen? Landesweit stagniert der Inzidenzwert seit Tagen. In Dortmund stieg er innerhalb eines Tages um 4,3 auf 48,4, in Duisburg um 1,4 auf 54,3, in Bochum und Köln sanken die Werte.

Der seit Wochen anhaltende Trend nach unten scheint in NRW bei den Inzidenzwerten zumindest verlangsamt oder sogar gestoppt. Das Landeszentrum Gesundheit warnte aber davor, aus diesen Zahlen einen Rückschlag im Kampf gegen das Coronavirus abzuleiten.

Gesundheitsministerium: Viele "Unschärfen" in den Statistiken

„Im Tagesvergleich der jeweils neuesten Meldungen kann es immer wieder auch zu leichten Anstiegen der Wocheninzidenz kommen“, erklärte das NRW-Gesundheitsministerium auf Nachfrage. Es gebe „Unschärfen“ bei den Meldungen zum Infektionsgeschehen, die oft nachträglich korrigiert werden müssten. „Für einen negativen Einfluss der Virus-Mutationen liegen bis jetzt keine belastbaren Informationen vor“, betonte das Ministerium. Im Vergleich zum landesweiten Inzidenzwert Anfang Februar von 85,7 ist der aktuelle Wert sicher eine gute Nachricht.

Der Essener Virologe Prof Ulf Dittmer hält die Lage, was die Arbeitsmöglichkeiten der Gesundheitsämter betrifft, aktuell nicht für sehr besorgniserregend. „Der Inzidenzwert 50 wurde immer mit der Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten durch die Gesundheitsbehörden begründet. Die Gesundheitsämter haben aber inzwischen aufgerüstet und können sicher auch einen Inzidenzwert von 75 nachverfolgen.“

Wettlauf gegen die Zeit

Großzügige Lockerungen der Corona-Maßnahmen sollten angesichts der nach wie vor unsicheren Lage im Moment nicht angestrebt werden, warnt Prof. Stephan Ludwig, Virologe an der Uniklinik Münster. Der Kampf gegen das Coronavirus sei ein Wettlauf mit der Zeit. „Der Ansatz muss sein, die Ausbreitung der Virus-Varianten zu verzögern, gleichzeitig die Impfkampagne engagiert voranzubringen und ins Frühjahr zu kommen.“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) dämpfte mögliche Erwartungen auf rasche Öffnungen anhand eines festen Stufenplans. Die Wege raus aus dem Lockdown müssten jetzt „mit ganz besonderer Vorsicht“ gegangen werden, sagte er am Mittwoch. Alle zwei Wochen müsse überprüft werden, „wo wir stehen“, besonders mit Blick auf die Virus-Mutationen.