Bochum. Missbrauchsskandale stürzten Kirche in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise. Bochumer Theologen fordern tiefgreifende Reformen

Im Zuge der Missbrauchs- und Finanzskandale in der katholischen Kirche warnt der Bochumer Theologe Benedikt Jürgens vor einem Erstarken neokonservativer Kräfte in der Kirche. Der Skandal um die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle durch den Kölner Kardinal Woelki habe die Kirche in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise gestürzt.

Woelki hält seit Monaten ein vorliegendes Gutachten unter Verschluss, das klären sollte, wie die Bistumsleitung in der Vergangenheit mit Fällen sexuellen Missbrauchs umgegangen ist. Der Kardinal führt rechtliche Bedenken an und verweist auf ein neues Gutachten, das am 18. März veröffentlicht werden soll. Der Vatikan stützt laut Medienberichten nach langer Prüfung jetzt Woelkis Position und verzichtet darauf, gegen den unter Vertuschungsverdacht stehenden Kardinal kirchenrechtliche Schritte einzuleiten.

Theologen sehen die katholische Kirche wegen der Skandale in einer historischen Krise und fordern „epochale Reformen“. Christopher Onkelbach fragte Dr. Benedikt Jürgens vom Kompetenzzentrum „Führung“ des Zentrums für Angewandte Pastoralforschung an der Ruhr-Uni Bochum, wie das gelingen könnte.

Dr. Jürgens, Kardinal Woelki stürzte die katholische Kirche in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise. Müsste er zurücktreten?

Benedikt Jürgens: Es ist nicht Aufgabe eines Wissenschaftlers, einen Bischof zum Rücktritt aufzufordern. Aber es gibt viele Stellungnahmen von Priestern, Laien und auch Bischöfen dazu, die dies nahelegen. Letztlich ist es eine Entscheidung, die Kardinal Woelki selbst treffen muss. Der öffentliche Druck auf ihn ist jedenfalls groß.

Woelki sagte, er habe sich nichts vorzuwerfen. Wie kommt das an der Basis an?

Das kommt überhaupt nicht gut an, weil es schwierig ist, seine Gründe nachzuvollziehen, da das Gutachten weiter unter Verschluss ist. Natürlich müssen auch Fragen des Persönlichkeits- und Äußerungsrechts beachtet werden. Ob jedoch Persönlichkeitsrechte durch das Münchener Gutachten tatsächlich verletzt wurden, kann nicht überprüft werden – hier steht Aussage gegen Aussage. Im Mittelpunkt der Aufarbeitung müssten aber vor allem die Interessen der Betroffenen stehen. Trotz aller Beteuerungen muss man erhebliche Zweifel haben, dass das so ist. Eine gerichtliche Aufarbeitung ist leider nicht mehr möglich, weil die Taten ja zum größten Teil längst verjährt sind. Für die Öffentlichkeit ist das alles aber schwer nachvollziehbar.

Verstehen Sie die wachsende Zahl der Kirchenaustritte?

Der Unmut der Gläubigen ist absolut nachvollziehbar. Die katholische Kirche geht wegen der Missbrauchsfälle durch eine ihrer schwersten Krisen seit der Reformation vor 500 Jahren. Auch die Vorgänge in Köln sind ohne Beispiel – sieht man einmal vom Limburger Finanzskandal ab.

Wie sollte die Kirche mit den Skandalen umgehen?

Die Bistümer in Deutschland schlagen verschiedene Wege ein. So hat zum Beispiel Aachen mit dem Büro Westpfahl Spilker Wastl dieselbe Kanzlei wie das Kölner Bistum beauftragt. Obwohl auch hier der ehemalige Bischof und der ehemalige Generalvikar Einspruch eingelegt haben, weil sie ihre Persönlichkeitsrechte verletzt sahen, hat der Bischof das Gutachten veröffentlicht, ohne dass es zu Klagen gegen das Bistum Aachen gekommen ist. Man sieht daran, dass man Skandale unterschiedlich aufarbeiten kann. Andere Diözesen bekommen das offensichtlich deutlich besser hin als Köln.

Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf sieht die Katholische Kirche auf dem Weg in eine fundamentalistische Sekte. Geht er damit zu weit?

Wolf ist nicht der einzige, der diese Gefahr sieht. Der Theologe Michael Seewald sagte, im 21. Jahrhundert droht die Katholische Kirche nur noch als „unter die Völker verstreutes Freilichtmuseum“ wahrgenommen zu werden. Das wäre zwar traurig, aber noch die harmlosere Variante und würde immerhin keinen Schaden anrichten.

Wie meinen Sie das?

Ich befürchte eine Radikalisierung von Teilen der katholischen Kirche, wie man es zum Teil in den USA beobachten kann. Dort konnte sich der Vorsitzende der katholischen Bischofskonferenz aufgrund Bidens Haltung zur Abtreibung nur zu einer vergifteten Gratulation zum Amtsantritt des neuen US-Präsidenten durchringen. Eine vergleichbare Distanzierung von Trump, der sich offen und wiederholt rassistisch, frauen- und fremdenfeindlich geäußert und auch so gehandelt hat, hatte es nie gegeben.

Statt sich zu öffnen, könnte die Kirche noch konservativer werden?

Ich befürchte eine neokonservative, sehr rückwärtsgewandte Form der katholischen Kirche. Ein vermeintlich harmloser Retro-Katholizismus, der gesellschaftlich nur noch wenig Bedeutung hat, wird anfälliger für reaktionäre Strömungen. Er kann instrumentalisiert werden, um Unzufriedenheitsgefühle für einen intoleranten Nationalismus zu mobilisieren. Genau das ist unter Trump in den USA geschehen. In Europa können wir Ähnliches auch in Polen oder Ungarn beobachten.

Sehen Sie diese Gefahr auch in Deutschland?

Die Deutsche Bischofskonferenz geht hier einen anderen Weg. In den USA aber gilt selbst Papst Franziskus vielen Katholiken als Kommunist und damit als Feindbild. Das ist eine Form von Katholizismus, vor der ich warnen will.

Welche Reformen wären nun dringend nötig?

Das Hauptproblem ist die fehlende Kontrolle der Amtsträger. Es muss in der Kirche eine Gewaltenteilung geben. Bislang liegt die Macht immer in den Händen einer Person, also dem Papst, dem Bischof oder dem Pfarrer vor Ort. So versucht zum Beispiel Kardinal Woelki die Verletzung von Persönlichkeitsrechten potenzieller „Vertuscher“ zu vermeiden und gleichzeitig als Aufklärer tätig zu sein. Außerdem gibt es keine Regeln, wie ein Bischof Rechenschafft ablegen muss. Vor allem aber fehlt eine Instanz der Machtkontrolle.

Reichen strukturelle Reformen aus, um die Kirche aus der Krise zu führen?

Wir benötigen auch eine Änderung der Haltung. Bisher ist das Selbstverständnis der Kirche doch so: Papst, Bischof oder Pfarrer predigen etwas und die Menschen sollen es hören, verstehen und befolgen. Veränderungsprozesse sind aber nur dann möglich, wenn man auch auf die hört, zu denen man spricht, also die Kirchenmitglieder. Und selbst wenn sich hier schon eine Menge geändert hat, bleibt das Problem, dass nur kirchliche Amtsträger Entscheidungen treffen können. Eine Synode kann also beschließen, was sie will. Bei der Umsetzung ist sie stets auf das Wohlwollen der kirchlichen Amtsträger angewiesen.

Kritischer Band von Bochumer Theologen

Benedikt Jürgens ist mit Prof. Matthias Sellmann Herausgeber des Buches „Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis“ (Verlag Herder 2020).

Die zentrale These lautet: Die Führungskrise der katholischen Kirche ist im Kern eine Krise der Entscheidungspraxis. Diese sind allein geweihten Amtsträgern vorbehalten, die sich jedoch in Finanz- und Missbrauchsskandale verstrickt haben. An dem Buch hat die gesamte Katholisch-Theologische Fakultät der Ruhr-Uni Bochum mitgearbeitet.