Essen. Bistum Essen beauftragte Forscher, Missbrauchsfälle seit 1958 zu untersuchen. Strukturen, die Taten begünstigt haben, sollen aufgedeckt werden.

Die katholische Kirche hat nichts gelernt aus den Missbrauchsskandal, der vor gut zehn Jahren ans Licht kam. Diesem Vorwurf mussten sich die Bischöfe immer wieder stellen. Das Bistum Essen will diese Kritik entkräften und hat Wissenschaftler eines Münchener Instituts beauftragt, sämtliche Missbrauchsfälle seit Gründung des Ruhrbistums im Jahr 1958 aufzuarbeiten.

Dabei gehe es vor allem darum, die Strukturen und Hintergründe sowie das Fehlverhalten von Verantwortlichen zu beleuchten, die sexuellen Missbrauch begünstigt haben. „Wir wollen verstehen und wir wollen verändern, um Missbrauch in Zukunft zu verhindern“, sagte Ruhrbischof Frans-Josef Overbeck am Freitag bei der Vorstellung des auf zwei Jahre angelegten Vorhabens.

Wissenschaftler suchen Kontakt zu Betroffenen

Die Wissenschaftler des Münchener Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) verbinden den Beginn ihrer Forschungsarbeit mit einem Aufruf an alle Mitglieder des Bistums: „Wir bitten Menschen, die Übergriffe und sexualisierte Gewalt durch Mitarbeiter des Bistums erlitten haben, sich bei uns zu melden“, sagte Gerhard Hackenschmied, Psychologe vom IPP. „Wir sind bei unserer Arbeit auf Zeitzeugen angewiesen und glauben, dass es noch viele Betroffene gibt, die sich bisher gescheut haben, über ihre Erfahrungen zu berichten“, ergänzte Helga Dill, Soziologin und Geschäftsführerin des Münchener Instituts.

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Das Bistum habe den Forschern vollständige Akteneinsicht zugesichert, auch in bisher verschlossene Geheimakten. „Wir arbeiten unabhängig, das Bistum ist nicht weisungsbefugt und die Ergebnisse werden anschließend veröffentlicht“, betonen die Studienautoren. Bischof Overbeck sagte: „Wir wollen jetzt den nächsten Schritt bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle gehen, die uns bereits seit Januar 2010 beschäftigen. Wir wollen tiefer gehen und die Hintergründe in unserer Kirche aufdecken, die Missbrauch unterstützt und ihre spätere Vertuschung ermöglicht haben.“

Die Kultur des Schweigens durchbrechen

Um Aufklärung bemüht: Generalvikar Klaus Pfeffer, Gerhard Hackenschmied und Soziologin Helga Dill vom Münchener Forschungsinstitut und Bischof Franz-Josef Overbeck (v.l.).
Um Aufklärung bemüht: Generalvikar Klaus Pfeffer, Gerhard Hackenschmied und Soziologin Helga Dill vom Münchener Forschungsinstitut und Bischof Franz-Josef Overbeck (v.l.). © FUNKE Foto Services | Foto: Kerstin Kokoska

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Christopher Onkelbach
Von Christopher Onkelbach

Bei einer von den deutschen Bischöfen im Jahr 2018 vorgestellten Studie zum sexuellen Missbrauch war im Bistum Essen von 85 Opfern und 60 beschuldigten Priestern seit Bistumsgründung ausgegangen worden. 19 Geistliche wurden verurteilt, sieben straf- und kirchenrechtlich, vier nur strafrechtlich und acht nur kirchenrechtlich. Für 41 Priester gab es „ernstzunehmende Hinweise auf Missbrauchstaten“, so ein Bistumssprecher. Seither haben sich zwölf weitere Betroffene gemeldet.

Oft herrsche unter allen Betroffenen „eine Kultur des Schweigens“, erklärte Helga Dill. Opfer würden häufig jahrelang nicht über ihre Erfahrungen reden. Teils aus Scham über das Erlittene, teils aufgrund des Drucks, den Missbrauchstäter auf sie ausübten. „Auch die Verantwortlichen in der Institution haben häufig wenig Verständnis und Mitgefühl gezeigt. Der Schutz der Kirche war oft wichtiger als das Schicksal der Opfer“, führte die Psychologin aus. „Diese Kultur des Schweigens zu durchbrechen ist wichtig, um mit der Aufarbeitung beginnen zu können.“

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Die Wissenschaftler verfolgen bei ihrer Arbeit drei Ansätze. Zunächst geht es um die Analyse von Tatverläufen und Täterkarrieren. „Dabei interessiert uns, wie die Bistumsverantwortlichen mit Hinweisen auf sexualisierte Gewalt umgegangen sind“, erklärt Hackenschmied. In einem zweiten Schritt soll untersucht werden, wie sich Missbrauchstaten auf die ganze Kirchengemeinde ausgewirkt haben. Der dritte Teil befasst sich mit der Sexualmoral der Kirche speziell in der Priesterausbildung sowie mit den Regelungen zum Umgang mit überführten Tätern.

Overbeck verteidigt neue Regelungen zum Schmerzensgeld

Bischof Overbeck verteidigte bei dieser Gelegenheit die neuen Leitlinien zur Entschädigung von Missbrauchsopfern, die am Donnerstag von der katholischen Bischofskonferenz beschlossen wurden, gegen die Kritik von Opfer-Initiativen. Nach den neuen Richtlinien können Opfer von sexuellem Missbrauch künftig mit deutlich höheren Schmerzensgeldzahlungen als bisher rechnen. Dabei orientierte sich die Kirche an der geltenden zivilrechtlichen Schmerzensgeld-Tabelle und entsprechenden Gerichtsurteilen. Für sexuellen Missbrauch bedeutet dies derzeit eine Summe zwischen 5000 und 50.000 Euro.

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Die Opferinitiative „Eckiger Tisch“ reagierte mit Wut und Unverständnis. Sie hatte zuvor pauschale Entschädigungen von 300.000 Euro gefordert. Die Entscheidung sei „mutlos“ und bedeute ein „Versagen der Bischöfe“. Ruhrbischof Overbeck erklärte, die Bischöfe hätten sich an weltlichem Recht orientiert. Es sei auch eine Frage der Gerechtigkeit, Opfer nicht nach unterschiedlichen Maßstäben zu behandeln. „Die gefundene Lösung können wir vertreten. Wir wollen ein Zeichen setzen, doch wir wissen, dass man Leid nicht mit Geld aufwiegen kann.“

>>>> Beteiligung an der Studie

Für die Studie suchen die Wissenschaftler Betroffene, die Übergriffe und sexualisierte Gewalt durch Mitarbeiter des Bistums Essen erlitten haben und über ihre Missbrauchserfahrungen berichten möchten. Zudem werden Personen im Bistum gesucht, die als Mitglieder eines speziellen Gremiums die Studie begleiten und unterstützen möchten. E-Mail: Aufruf@ipp-muenchen.de; Telefon: 0151/45729812 (vom 10. März bis 9. April, dienstags von 15-18 Uhr, donnerstags von 9-12 Uhr).