Bochum. Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen -- niemand leugnet die Gefahr solcher Katastrophen. Weshalb ist dies bei Corona anders?

Die Corona-Pandemie ist eine Naturkatastrophe, doch leider verstehen das viele Menschen immer noch nicht, sagt der Philosoph Albert Newen. Bei starken Überschwemmungen, Erdbeben und Stürmen falle es den Menschen leicht, dies als Katastrophen wahrzunehmen und sich angemessen zu verhalten. Doch bei der Corona-Pandemie gibt es Skeptiker, Verweigerer und sogar Leugner der Katastrophe. Christopher Onkelbach fragte den Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, warum es vielen Menschen so schwerfällt, das Phänomen zu begreifen und entsprechend zu handeln.

Professor Newen, in Deutschland haben sich bisher rund 2,3 Millionen Menschen infiziert, mehr als 63.000 Tote wurden bisher gemeldet -- wie kann man verstehen, dass manche Menschen die Pandemie dennoch leugnen?

Albert Newen: Wir nehmen die Corona-Pandemie anders wahr als Naturkatastrophen wie etwa das Oder-Hochwasser 1997. Solche Ereignisse treffen meist nur einen Teil des Landes, sie geschehen in einem überschaubaren Zeitrahmen und man weiß aus Erfahrung, was zu tun ist. Die Pandemie aber ist anders. Sie entwickelte sich über einen langen Zeitraum und ihr Ende ist ungewiss. Zudem können wir sie nicht mit unseren Sinnen erfassen.

Wie meinen Sie das?

Bei Gefahren verlassen wir uns vor allem auf unsere Augen, weil wir sie dann gut kommen sehen und darauf reagieren können. Gleichzeitig neigen wir dazu, Dinge zu ignorieren, die wir nicht erkennen können – wie eben das Virus. Die Wirkungen der Pandemie erfahren die meisten Menschen nur indirekt, sofern sie nicht selbst oder ihre Angehörigen betroffen sind. Das macht es so schwer, die Gefahr anzuerkennen. Manche leugnen sie sogar.

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Reicht das als Erklärung, warum manche die Corona-Regeln missachten oder gar ablehnen?

Es erklärt sich auch dadurch, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Evolutionär sind wir Lebewesen, deren Überleben nur in der Gruppe gelingt. Wir brauchen zudem Nähe und Anerkennung, damit wir unser Leben lebenswert finden. Das alles wird uns derzeit durch die staatlichen Maßnahmen weitgehend verwehrt. Auf Begegnungen zu verzichten, ist für uns Menschen auf Dauer eine enorme Einschränkung. Viele empfinden es jedoch bereits als starke Einschränkung, wenn sie große Teile des Tages eine Maske tragen sollen.

Erklärt das auch die heftigen Proteste in manchen Städten?

Wir leben mit automatisierten Gewohnheiten und sind nur schwer dazu zu bewegen, etwas daran zu ändern. Das können Sie bei jedem Raucher beobachten. Die Einsicht allein, dass dies schädlich ist, führt noch nicht zu einem veränderten Verhalten. Dazu kommt, dass wir glauben, einen Anspruch auf Normalität zu haben. Wir wollen auch in diesem Jahr auf unseren Mallorca-Urlaub nicht verzichten. Wenn ich das Virus nicht wahrnehmen kann, fällt es doppelt schwer, darauf zu verzichten. Zudem haben wir eine starke Anspruchshaltung entwickelt: Viele Protestler denken, dass ihnen etwas weggenommen wird, worauf sie uneingeschränkten Anspruch haben.

Der Mensch glaubt, Existenzsicherheit, Freiheit und Wohlstand stehen ihm in jedem Fall zu?

Ja, wir haben mit Hilfe von Wissenschaft und Industrie den Hunger weitgehend überwunden, Überschwemmungen und Stürme vorhersehbar gemacht und viele Krankheiten besiegt. Wir sind es gewohnt, ohne existenzielle Bedrohungen aufwachsen zu können. Daher denken vor allem junge Menschen, dass ihnen fast nichts etwas anhaben kann. Und im Zweifel muss der Staat dafür sorgen, dass alle existentiellen Bedrohungen wegorganisiert werden.

Der Philosoph Prof. Albert Newen lehrt an der Ruhr-Universität Bochum.
Der Philosoph Prof. Albert Newen lehrt an der Ruhr-Universität Bochum. © Privat | Privat

In der Pandemie funktioniert das nicht mehr?

Die Grundidee unseres Gemeinwesens ist, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo er oder sie die Freiheit des anderen verletzt. Wir brauchen in der Pandemie eine neue Dimension des Gemeinsinns. Das Problem ist, dass eine sehr kleine Prozentzahl von Menschen, die sich nicht solidarisch verhält, das Gemeinschaftsprojekt zerstören kann. Das ist der gravierende Unterschied zu Naturkatastrophen wie etwa der Oder-Flut. Dort reicht eine gewisse Zahl von Helfern. In der Pandemie aber müssen alle ihren Lebensalltag verändern, damit wir gut durch die Krise kommen.

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Aber die sogenannten Querdenker werden das nicht mitmachen?

Einsicht ist die Voraussetzung, um ein Problem zu lösen. Die Corona-Leugner drehen die Argumentation um: Ich bin nicht bereit, meine Alltags-Freiheiten einzuschränken. Dazu kommen Verschwörungserzählungen, wonach die Regierung den Menschen die Pandemie bloß einredet, um sie zu manipulieren. Also kann es die Pandemie nicht geben. Es geht diesen Menschen nicht um Fakten, sondern nur darum, was mit ihrem Willen und ihrer Vorstellung vereinbar ist.

Sie sagten einmal, die Pandemie sei eine Vorübung für weitere Herausforderungen. Was meinten Sie damit?

Es liegt auf der Hand, dass damit die Klimakrise gemeint ist. Da gibt es einige Parallelen. Auch sie ist zunächst nicht sichtbar. Die Fakten sind gut bekannt, trotzdem gibt es immer noch Klimakrisen-Leugner. Und auch die Herausforderungen sind vergleichbar. Wie bei der Pandemie müssen alle mitmachen, um die Krise zu bewältigen, weltweit.

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Was können wir aus der Corona-Krise für die Klimakrise lernen?

Die Pandemie ist eine Weltaufgabe. Die rasante Impfstoffentwicklung ist trotz aller Konkurrenz eine sensationelle Gemeinschaftsleistung. Hier hat die Weltgemeinschaft richtig reagiert. Genauso müssen wir einen weltweiten Wettlauf um alternative Energien beginnen. Ein Wettlauf, bei dem die Menschheit versucht, ihre Erde bewohnbar zu halten. Grüne Energien sind in der Klimakrise das, was die Impfstoffe sind zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Zur Person:

Alber Newen, Jahrgang 1964, lehrt seit 2007 Philosophie an der Ruhr-Uni Bochum. Zuletzt war er zudem Vorsitzender der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft (2018-2020).

Hintergrund:

Laut einer repräsentativen Umfrage gehen rund 30 Prozent der Deutschen davon aus, dass die Corona-Pandemie zu einer größeren Sache gemacht wird, als sie es eigentlich ist. 15 Prozent sind der Auffassung, dass es bislang „keine eindeutigen Beweise für die Existenz des Virus gibt“.

Dies sind Ergebnisse des „Wissenschaftsbarometers 2020“, einer in regelmäßigen Abständen erhobenen repräsentativen Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Kantar im Auftrag der Initiative „Wissenschaft im Dialog“ (WiD) zuletzt Anfang November durchgeführt hat.