Bochum. Bochumer Sozialwissenschaftler fragten Schüler nach ihrem Wohlbefinden. Arme Kinder haben schlechtere Chancen für Gymnasialempfehlung

Viele Schüler fühlen sich von Lehrern, Eltern oder Mitschülern missachtet oder nicht anerkannt. 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen der Jahrgangsstufe sieben und neun sagten, es gebe an ihrer Schule keine erwachsene Person, „der ich wirklich wichtig bin“. Dies ist ein Ergebnis einer Befragung von 3200 Kindern und Jugendlichen an weiterführenden Schulen in Herne und Bottrop, die das Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (Zefir) in Zusammenarbeit mit den Kommunen im November des letzten Jahres durchgeführt hat.

„Vielen Schülern fehlt an den Schulen eine Bezugsperson, die ihnen vermittelt, dass Ihnen der Erfolg der Kinder am Herzen liegt“, sagte der Bochumer Sozialwissenschaftler und Studienleiter Prof. Sören Petermann am Mittwoch bei einer Online-Fachtagung.

Dabei gehen die Forscher neue Wege. Seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 wurde stets die Leistung der Schüler abgefragt. Der inzwischen sprichwörtliche „Pisa-Schock“ stellte sich ein, weil sichtbar wurde, wie groß der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg ist. Offen blieb die Frage, welche Voraussetzungen Kinder benötigen, um gute Leistungen erbringen zu können. Mit UWE (Umwelt, Wohlbefinden und Entwicklung) entwickelten die Zefir-Forscher erstmals ein Instrument, um dieses Dunkelfeld auszuleuchten. Sie fragten die Schüler: Wie geht es euch?

Den Schülern eine Stimme geben

„Wir wollen den Kindern eine Stimme geben“, lautet der Ansatz der Forscher. Das Team ließ die Schüler rund 70 Fragen zu den Themenbereichen Schule, Familie, Umwelt und Wohlbefinden beantworten. Gefragt wurde konkret nach Ernährung, Schlaf, Familie, Freunden, nach dem Umgang in der Schule, Traurigkeit, Druck oder Diskriminierung.

Nach der Analyse der Daten fühlen sich zwar die meisten Kinder wohl, doch rund ein Fünftel zeigte insgesamt ein sehr geringes Wohlbefinden. „Diese Schüler müssen wir in den Blick nehmen. Bei ihnen kann man nicht von einem gelingenden Aufwachsen sprechen“, mahnt Petermann. An manchen Schulen sagen sogar drei Viertel der Schüler: Ich bin für meine Lehrer nicht wichtig, ergänzt der Sozialwissenschaftler Klaus Peter Strohmeier. „Das sagt viel über den Lernort Schule als Alltags- und Lebensraum aus.“

Armut entscheidet oft über Bildungsweg

Doch auch die Familie spielt beim Wohlbefinden der Schüler eine große Rolle. Bekommen Kinder genug Schlaf, gibt es einen Platz zum Lernen, gemeinsame Aktivitäten und Mahlzeiten? Zahlreiche Schüler gehen morgens ohne ein Frühstück aus dem Haus, mehr als ein Drittel der Jugendlichen geht nach eigenen Angaben erst um 23 Uhr oder später ins Bett. Dabei zeigten die Daten, dass Schlaf und Ernährung zentral sind für das Wohlbefinden der Schüler, so die Forscher.

Auch das soziale Umfeld nahmen die Wissenschaftler in den Blick. Denn es ist bekannt, dass die soziale Spaltung in den Städten zu ungleichen Bildungs- und Teilhabechancen führt. Am Beispiel der Stadt Solingen zeigte Zefir-Wissenschaftlerin Katharina Knüttel diesen Zusammenhang anhand der Übergangsquoten von der Grundschule ans Gymnasium auf. Danach erhielten nur zehn Prozent der Kinder, deren Familien Sozialhilfe bezogen, eine Empfehlung für das Gymnasium. Bei Kindern, die nicht auf Sozialhilfe (SGB II) angewiesen sind, waren es knapp 40 Prozent. „Je größer die Armut, desto geringer sind die Chancen, es aufs Gymnasium zu schaffen“, zog Knüttel Bilanz.

Deutlich weniger Gymnasialempfehlungen

Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Betrachtung der Stadtviertel. Hier zeigte sich je nach Wohnort eine enorme Spreizung bei den Übergängen zu einer weiterführenden Schule. Während in „besseren“ Quartieren fast 70 Prozent der Grundschulkinder eine Empfehlung für den Besuch des Gymnasiums erhielten, lag die niedrigste Quote bei nur 17 Prozent. Katharina Knüttel: „Armut und Wohnort haben einen starken Einfluss auf den Bildungserfolg der Kinder.“

Welche Konsequenzen können aus den gesammelten Daten gezogen werden? „Die Erhebung liefert Politik, Kommunen und Schulen steuerungsrelevantes Wissen“, so die Forscher. Soll heißen: Aus den Daten lassen sich Maßnahmen und Angebote ableiten, um die Lage der Kinder zu verbessern. So erhält im Anschluss jede Schule eine Auswertung der Daten, die in Schulkonferenzen diskutiert werden könne. Petermann: „Die Schulen können erkennen wo sie stehen und aktiv etwas verändern.“ Auch die betroffenen Kommunen erhalten im Anschluss einen Bericht, auf dessen Basis Maßnahmen umgesetzt werden können.

Weitere Städte an UWE interessiert

2017 haben die Sozialforscher das UWE-Projekt begonnen. Inzwischen sind nach Bottrop und Herne auch Essen, Mülheim und Duisburg sowie bundesweit zahlreiche weitere Kommunen daran interessiert. Derzeit werden im Rahmen des Projekts auch Grundschüler der vierten Klassen in Herne befragt. Wie die Corona-Maßnahmen in die Aussagen der Schüler einfließen werden, sei noch nicht absehbar. Die Distanz zwischen Lehrern und Schülern dürfte jedoch eher noch wachsen.