Herne/Essen. Bundesweit erste Studie zeigt: Mehr als 40 Prozent der Schüler fühlen sich missachtet und von Lehrern, Eltern oder Mitschülern nicht anerkannt.
Seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 wurde stets die Leistung der Schüler abgefragt. Der inzwischen sprichwörtliche „Pisa-Schock“ stellte sich ein, weil sichtbar wurde, wie groß der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Schulerfolg ist.
Das Lebensumfeld der Schüler aber wurde kaum in den Blick genommen. Offen blieb die Frage, welche Voraussetzungen Kinder benötigen, um gute Leistungen erbringen zu können. Für Wissenschaft und Pädagogen waren die Schüler eine „Black Box“. Bis jetzt. Denn eine bundesweit einzigartige Studie fragte Schüler erstmals: Wie geht es euch?
„Wir wollen Kindern eine Stimme geben“, erklärt der Sozialwissenschaftler und Studienleiter Klaus Peter Strohmeier den Ansatz der Befragung. Die Wissenschaftler des Zentrums für Interdisziplinäre Regionalforschung (Zefir) der Ruhr-Uni Bochum griffen sich für ihre Pilotstudie die Stadt Herne heraus, denn sie gilt neben Gelsenkirchen als eine der ärmsten Städte in NRW, so Strohmeier.
Sein Team ließ rund 2000 Schüler der siebten und neunten Jahrgangsstufen aller Regelschulen der Stadt 70 Fragen zu den Themenbereichen Schule, Familie, Umwelt, Wohlbefinden und Entwicklung beantworten.
Die Ergebnisse waren niederschmetternd, berichtet Strohmeier. Demnach fühlen sich 41 Prozent der befragten Mädchen und Jungen aus dem Siebener-Jahrgang nicht wohl, missachtet und von Lehrern, Eltern und Mitschülern nicht anerkannt.
Bei den Schülern der neunten Jahrgangsstufe waren es sogar 44 Prozent. Nur 21 Prozent der Befragten fühlten sich gut. Dabei waren zwischen den verschiedenen Schulformen kaum Unterschiede zu erkennen, wohl aber von einer Schule zur anderen.
Eine Person, der ich wirklich wichtig bin?
Gefragt wurde nach Ernährung, Schlaf und Familie, nach dem Umgang in der Schule, unterstützenden Beziehungen zu Erwachsenen, Freundschaften oder gemeinsamen Aktivitäten. Besonders erschüttert war Strohmeier von den Antworten zu diesem Satz: „In meiner Schule gibt es eine erwachsene Person, der ich wirklich wichtig bin.“ Nur 30 Prozent der Schüler der siebten Jahrgangsstufen antwortete mit Ja, bei den Teenagern aus der Stufe neun waren es 40 Prozent.
Die Mehrheit hat offenbar das Gefühl, die Lehrer interessierten sich nicht für sie. Strohmeier: „Wenn so viele Kinder sagen, für meine Schule bin ich nicht wichtig, dann sagt das viel über den Lernort Schule als Alltags- und Lebensraum aus.“ Dazu passt, dass nur rund die Hälfte der Teenager der Ansicht war, an ihrer Schule herrsche ein respektvoller Umgang.
Viele gehen ohne Frühstück zur Schule
Doch auch die Familie spielt beim Wohlbefinden der Schüler eine große Rolle. Bekommen Kinder genug Schlaf, gibt es einen Platz zum Lernen, gemeinsame Aktivitäten und Mahlzeiten? Auf die Frage: „Wenn du an eine normale Woche denkst, an wie vielen Tagen hast du ein Frühstück?“, sagte etwa ein Drittel der Schüler, nie oder selten ein Frühstück zu bekommen, in manchen Stadtvierteln gehen laut Studie sogar die Hälfte der Teenager hungrig zur Schule.
Welche Konsequenzen lassen sich ziehen? „Die Erhebung liefert Politik, Kommunen und Schulen steuerungsrelevantes Wissen“, erklärt der Sozialwissenschaftler. Soll heißen: Aus den Daten lassen sich Maßnahmen und Angebote entwickeln, um die Situation der Kinder zu verbessern.
So könne die Schule aktiv Kontakt zu Eltern suchen, die sich bei Sprechtagen nicht blicken lassen, schlägt Strohmeier vor. Zudem könne die Stadt Kindern Freizeitangebote machen, damit sich Jugendliche aus verschiedenen sozialen Milieus begegnen. Kirchengemeinden, Sportvereine oder auch die lokale Feuerwehr könnten sich einklinken.
Mit Schulen Verbesserungen erarbeiten
Nicht zuletzt müssten die Schulen ihr Lernklima überdenken und konkrete Angebote machen: „Zum Beispiel könnte man jeden Morgen gemeinsam ein Frühstück zubereiten und zusammen essen. Das wäre ein Anfang,“ meint Strohmeier.
Auch die Verantwortlichen in der Stadt wurden durch die Daten aufgeschreckt. Mit den Schulen sollen nun Maßnahmen entwickelt werden, um der Vereinsamung von Kindern in Schulen und Kitas entgegenzuwirken. Die Stadt strebe einen „engen Beteiligungsprozess“ an, „wir lassen die Schulen nicht alleine“, kündigte Hernes Bildungsdezernentin Gudrun Thierhoff an.
Schüler haben sich bedankt
Beeindruckt war Strohmeier von dem Feuereifer, mit dem die Schüler mitgemacht haben. „Viele haben sich bei uns dafür bedankt, dass wir gefragt haben, wie es ihnen geht.“ Endlich wurde ihnen auf Augenhöhe begegnet. Die Wissenschaftler wollen die Studie künftig auf weitere Städte der Region ausweiten, „am liebsten auf alle“, lacht Strohmeier.
Mit Bottrop sei man bereits im Gespräch. Denn die Daten geben Kommunen die Chance, für jedes Stadtquartier passende Strategien zu entwickeln. Strohmeier: „Wir machen die Welt zwar nicht bis morgen besser – aber vielleicht bis übermorgen.“