Duisburg. Die bekannte Islamwissenschaftlerin tritt für die Grünen an. Statt Politik nur zu kommentieren, will sie ihre Ansichten nun umsetzen

Zuerst hat sie ihre beiden Kinder gefragt, ob sie diesen Schritt wagen soll. „Sie waren einverstanden, stellten aber allerlei Bedingungen, was sie dafür bekommen möchten“, lacht Lamya Kaddor. Die bekannte Islamwissenschaftlerin, Lehrerin und Publizistin will für die Grünen in den Bundestag . Ihre Chancen, künftig Abgeordnete in Berlin zu werden, stehen nach derzeitiger Umfragelage nicht schlecht. Dennoch will die 42-Jährige auch im Falle ihrer Wahl ihre Heimatstadt Duisburg nicht verlassen.

„Für mich beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, sagt sie zu ihrem Einstieg in die Politik. Christopher Onkelbach fragte sie, warum sie sich entschlossen hat, für die Duisburger Grünen zu kandidieren, was sie in Berlin erreichen will und warum auch das Schicksal ihres ermordeten Vaters ein Antrieb für sie ist.

Frau Kaddor, wieso haben Sie sich gerade jetzt entschlossen, in die Politik zu gehen?

Lamya Kaddor: Ich bin seit Jahren als Publizistin, Kolumnistin und Beraterin politisch aktiv. Irgendwann fiel mir auf, dass ich immer Forderungen an die Politik stelle. Fordern ist das eine, sich um die Umsetzung bemühen, das andere. Ich war lange Zeit unentschieden, wo und wie ich meinen Beitrag leisten kann -- auch wegen meiner Kinder. Doch jetzt sind sie in einem Alter, in dem sie das verstehen. Ich möchte mich jetzt aktiv einbringen.

Was ist ihre Motivation?

Unsere Gesellschaft befindet sich im Umbruch. Der Extremismus in allen Formen nimmt zu. Kräfte, die eine freie Gesellschaft abschaffen wollen, werden stärker. Sie werden nicht nur lauter, sondern sind auch zunehmend bereit, Gewalt anzuwenden. In einer Zeit, in der unsere Demokratie ernsthaft bedroht ist, ist der richtige Moment, etwas zu gestalten und zu verändern. Ich bin dafür im richtigen Alter, habe die Kraft, die Erfahrung und genügend Sachverstand, um mich einzubringen.

Warum gehen Sie für die Grünen ins Rennen?

Ich bin schon seit Jahren für die Grünen beratend tätig. Meine Themen wie Rassismus, Extremismus und Integration sowie auch meine Person wurden offen aufgenommen. Von beiden Seiten entstand der Wunsch, daran weiterzuarbeiten. Bei den Grünen habe ich meine politische Heimat gefunden. Denn nicht nur Klimaschutz und Nachhaltigkeit sind aktuelle Herausforderungen, auch der Wandel der Gesellschaft. Diese beiden Formen des Klimawandels möchte ich mitgestalten.

Hatten Sie vor der Entscheidung das Gefühl, dass sie mit Ihrer pädagogischen und wissenschaftlichen Arbeit Ihren Zielen nicht mehr näherkommen?

Nein, ich fühle mich überhaupt nicht an einem Endpunkt. Ich habe erfüllende Berufe, die mir wichtig sind. Es fällt mir nicht leicht, meine Stelle als Lehrerin am Landfermann-Gymnasium sowie meine Forschungsvorhaben an der Uni Duisburg-Essen aufzugeben. Das Projekt „Antisemitismus im Jugendalter“ ist für mich immer noch eine Herzensangelegenheit. Ich habe 15 Jahre als Lehrerin gearbeitet und fast genauso lange als Wissenschaftlerin. Als Abgeordnete werde ich meine Themen wie Extremismus, Religions- und Integrationspolitik weiter verfolgen. Das empfinde ich als große Chance. Ich gehe demütig und mit Respekt an meine neuen Aufgaben heran, ich habe einen hohen Anspruch an mich selbst.

Ist es für eine Wissenschaftlerin nicht problematisch, die politische Unabhängigkeit zu verlieren?

Nicht nur als Wissenschaftlerin , auch als Publizistin und Kolumnistin. Möglich, dass nun alles, was ich schreibe, unter einem grünen Label gesehen wird. Aber ich kann meine Anliegen nun auf einer anderen Ebene vorbringen, insofern zahle ich den Preis dafür.

Fürchten Sie nicht, zur „Quotenmigrantin“ im Bundestag zu werden?

Ich habe schon in meinem Bewerbungsschreiben für die Grünen klargestellt, dass ich dafür nicht zur Verfügung stehe. Ich bin Deutsche ohne Wenn und Aber, Duisburgerin und ein Kind des Ruhrpotts. Aber zugleich möchte ich weder meine syrische Herkunft noch meinen muslimischen Glauben verleugnen. Die Frage nach dem Zusammenhalt der Gesellschaft – Wer sind wir? Was ist deutsch? – beschäftigt mich durch und durch. Fünf meiner ehemaligen Schüler wollten nach Syrien gehen, um für den „Islamischen Staat“ zu kämpfen. Letztes Jahr wurde mein Vater bei einem Raubüberfall in Syrien ermordet, nachdem er kurz zuvor bei einem Luftangriff dort ein Bein verloren hatte. Das sind Punkte in meinem Leben, die haben mich schwer getroffen. Aber sie sind auch ein Antrieb für mich und meine Arbeit.

Sie mussten für Ihre Bücher und Kolumnen viele Anfeindungen hinnehmen. Fürchten Sie, dass dies nun zunimmt?

Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich für den Bundestag kandidiere, war ihre erste Reaktion: Wird das gefährlich für dich? Sie hat Angst um mich. Ich bin vorsichtig, was ich über mein Privatleben preisgebe. Hass, Hetze und Drohungen bekomme ich fast täglich. „Verpiss dich aus Deutschland“ ist da schon fast harmlos. Frau, liberale Muslimin, Migrantionshintergrund – und jetzt auch noch Grüne – ich biete für Rechtsextreme und Islamisten viele Angriffsflächen . Ich habe daher regelmäßig Besprechungen mit dem Staatsschutz.

Möglich, dass die Grünen nach der nächsten Bundestagswahl mit der CDU zusammenarbeiten werden – gibt es da Schnittmengen? Mit Seehofer?

Schwarz-Grün halte ich durchaus für wahrscheinlich. Und Seehofer habe ich zuletzt als durchaus gesprächsbereit erlebt. Trotz aller Differenzen denke ich, dass es mit der Union Schnittmengen gibt. Mittlerweile ist auch bei der CDU angekommen, dass wir ein Einwanderungsland sind und dass wir ein Einwanderungsgesetz brauchen. Der Kampf gegen den Extremismus ist für die Union ebenso ein zentrales Thema. Es kommt am Ende darauf an, wer CDU-Vorsitzender wird. Wichtig bleibt aber, den eigenen politischen Kern nicht zu verlassen und auf die eigenen Punkte zu beharren.

Sie gelten als streitbar mit einem Hang zur pointierten Formulierung. Müssen Sie sich das in Berlin abgewöhnen?

Ich unterliege einem gewissen Fraktionszwang, das ist okay. Die Grünen sind aber durchaus offen dafür, dass ich meine Sichtweisen einbringen werde, ich denke, deshalb hat man mich auch gewollt. Ich habe eine offene und direkte Art. Aber es ist niemals so, dass ich trotz meiner starken Haltung keinen Widerspruch dulde oder eigene Ansichten nicht hinterfragen würde. Ich streite mich ja gern, das gehört dazu. Das sollte aber konstruktiv bleiben. Meine Schüler kennen das von mir. Ich fordere sie mit meinen Fragen heraus. Ich möchte keine Ja-und-Amen-Sager.

In Berlin werden Sie als prominenter Neuling unter besonderer Beobachtung stehen. Stört Sie das?

Ja, das stimmt. Ich kann nicht einfach unter dem Radar abtauchen. Aber ich musste schon viele Konflikte und Auseinandersetzungen durchstehen. Ich bringe zumindest ein dickes Fell mit.

>>>> Zur Person:

Die Duisburger Grünen haben Lamya Koddor kürzlich mit 87,7 Prozent als ihre Bundestagskandidatin gewählt. Grünen-Vorsitzender Felix Banszak (31) erhielt 96 Prozent der Stimmen. Die Partei drück damit „ihre Unterstützung für die Kandidat*innen in den Verhandlungen zur Landesliste aus“, hieß es in einer Mitteilung. Kaddor tritt im Duisburger Süd-Wahlkreis an, Banaszak im Noden.

Kaddor ist Mitbegründerin des Liberal-Islamischen Bundes und Autorin zahlreicher Bücher zu Integration und Islamismus. Nach der Veröffentlichung ihres Buches „Die Zerreißprobe“ im Herbst 2016 musste sie sich wegen massiver Drohungen von ihrer Tätigkeit als islamische Religionslehrerin in Dinslaken beurlauben lassen. Als Lehrerin und als Wissenschaftlerin an der Uni Duisburg-Essen steht sie für zeitgemäßes Islamverständnis und veröffentlichte den ersten deutschsprachigen Koran für Kinder und Erwachsene.