Berlin/Duisburg. .
Die Gründung des liberalen Islamvereins in Duisburg werten Experten als Zeichen der Integration. Die Säkularisierung des Islam habe sich in den Köpfen der meisten Muslime längst vollzogen.
In Duisburg-Marxloh steht die größte Moschee Deutschlands. Fast ein Drittel der 18 000 in diesem Stadtteil lebenden Menschen sind Ausländer, die Mehrzahl davon Türken. Dass sich ausgerechnet in Duisburg ein islamischer Verein gründete, der sich Weltoffenheit, Gleichberechtigung, Liberalität und sexuelle Selbstbestimmung in die Satzung schrieb, verwundert nur auf den ersten Blick.
Denn höchstens ein Fünftel aller Muslime in Deutschland ist in islamischen Verbänden organisiert – hauptsächlich jene, die in den Moscheegemeinden aktiv sind. Das Glaubensspektrum unter Muslimen ist weitaus vielfältiger, als es von außen den Anschein hat. Doch auch die Politik befasst sich eher mit Islamisten, problematischen Jugendlichen, Gewalt und Sympathisanten des Terrors. Über diese einseitige Wahrnehmung sind immer mehr Muslime verärgert. Denn die große Mehrzahl ist nicht in den meist konservativen Verbänden aktiv und fühlt sich von ihnen nicht vertreten. Die Zeit schien reif zu sein für eine progressive muslimische Bewegung. Und Lamya Kaddor will sie mit dem „Liberal-Islamischen Bund“ (LIB) auf den Weg bringen.
Der Migrationsforscher Klaus J. Bade beobachtete diesen Trend und sagt: „Ich gehe davon aus, dass sich die immer wieder eingeforderte Säkularisierung des Islam in den Köpfen der meisten einzelnen Muslime schon längst vollzogen hat. Die Gründung des Vereins ist eine Antwort auf diese Entwicklung.“
„Nicht Gegenbewegung, sondern Erweiterung“
Dabei versteht sich der neue Verein nicht als „Gegenbewegung, sondern als Erweiterung“ zu den meist traditionell-konservativen Islamverbänden in Deutschland, stellt Lamya Kaddor klar. Doch müssten Muslime den Koran individuell auslegen dürfen. Das beinhalte sogar die Akzeptanz und Gleichbehandlung außerehelicher und gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. „Selbstbestimmte Lebensgestaltungen entlang der Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz, das ist unser Credo“, sagt Kaddor. Aus diesem Grundverständnis ergebe sich zwingend, dass seitens des Islam gegenüber „anderen Religionen kein exklusiver Wahrheitsanspruch geltend gemacht werden darf“.
Unter liberal-islamisch verstehen die LIB-Gründer eine „vernunftoffene Gläubigkeit“, die anderen Menschen mit „Respekt und Wertschätzung“ begegnet, die „Widersprüche aushält“ und die das „Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit voraussetzt“.
„Widerstand ist gesund“
Die Bochumer Islamwissenschaftlerin Raida Chbib wertet die LIB-Gründung als Zeichen einer Dynamik, „die zeigt, dass es immer mehr Muslime gibt, die sich den Fragen nach der Vereinbarkeit ihres Glaubens mit der deutschen Gesellschaft stellen“. Dies könne den Integrationsprozess befördern. Innerhalb des Islam sei indes eine Denkrichtung, die den Glauben als persönliche Angelegenheit betrachtet, nicht neu. Dieser Aspekt sei nur in Deutschland bislang kaum wahrgenommen worden. Beobachter bezweifeln indes, dass Muslime, die ein eher entspanntes Verhältnis zu ihrer Religion haben, sich überhaupt in einem Verein organisieren mögen.
Chbib: „Ich verstehe die Initiative als Reaktion einer Gruppe von Muslimen, die sich durch die islamischen Verbände nicht repräsentiert sieht.“ Ob man die Gründung aber als Zeichen einer innerislamischen Protestbewegung sehen könne, sei fraglich, obwohl Lamya Kaddor vor allem mit ihrem Schulbuchprojekt Probleme mit den konservativen Verbänden gehabt habe. Sollte es um Kaddors Initiative Debatten oder gar Streit geben, würde der Duisburger Islamwissenschaftler Jochen Hippler dies nur begrüßen: „Widerstand ist gesund. Es ist ja der Sinn der Sache, einen Diskurs in Gang zu bringen. Und das wurde Zeit.“