Düsseldorf. Nach der rechtsextremen Chat-Gruppe der Mülheimer Dienststelle werden immer mehr Verdachtsfälle bekannt. Der Innenminister verspricht Aufklärung.

  • Rechtsextremismus-Problem bei der Polizei ist offenbar deutlich größer als bislang bekannt
  • Seit 2017 sind bei der NRW-Polizei insgesamt 100 Mitarbeiter unter den Verdacht des Rassismus oder Rechtsextremismus geraten
  • Hinzu kämen vier Fälle im Innenministerium, teilte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Donnerstag in einem Bericht an den Landtag mit
  • Nach den aufgedeckten rechtsextremen Chat-Gruppen von Polizisten in Mülheim werden neue Details bekannt: Unter anderem wird eine Verbindung zur den „Steeler Jungs“ geprüft

Herbert Reul will gar nicht erst den Eindruck vermitteln, als wäre das Ende der Fahnenstange auch nur in Sichtweite. „Die Zahlen, Daten und Fakten stehen unter einem großen Vorbehalt, weil laufend neue Hinweise dazukommen“, sagt der NRW-Innenminister am Donnerstag im Landtag.

Dabei klingen die bislang bekannt gewordenen Vorgänge zu rechtsextremistischen Umtrieben in der NRW-Polizei schon bestürzend genug. Einer Statistik des Innenministeriums zufolge sind seit 2017 insgesamt 104 Verdachtsfälle wegen Rechtsextremismus in den Behörden aktenkundig geworden. In 71 Fällen wird zurzeit noch ermittelt. Darunter sind auch die Mitglieder privater Chat-Gruppen aus der Mülheimer Polizei, die in der vergangenen Woche bundesweit für Entsetzen gesorgt hatten. Seit 2012 war dort übelste rassistische und rechtsextreme Hetze geteilt worden.

Die Chats waren ein Zufallsfund. Inzwischen sind 31 Beamte suspendiert. 14 von ihnen sollen für immer aus dem Dienst entfernt werden. „Wer nicht auf dem Boden der Verfassung steht, hat bei uns in der Polizei nichts zu suchen“, stellt Reul klar.

Weitere 16 Hinweise zu rechtextremen Umtrieben bei NRW-Polizei

Längst gibt sich niemand mehr der Illusion hin, es habe sich im Verantwortungsbereich des Polizeipräsidiums Essen/Mülheim um bedauerliche Einzelfälle gehandelt. Allein in den wenigen Tagen seit Bekanntwerden der Chats sind weitere 16 Hinweise auf rechtsextreme Umtriebe bei der NRW-Polizei eingegangen. Ein weiterer Beamter aus Essen musste deshalb noch am Donnerstag Waffe und Dienstausweis abgeben. „Hier gibt es wohl keinen Zusammenhang zu den Chatgruppen“, so Reul.

Seitdem rechtsextreme Chat-Gruppen bei Polizisten in Mülheim aufgedeckt wurden, sind weitere Verdachtsfälle gemeldet worden.
Seitdem rechtsextreme Chat-Gruppen bei Polizisten in Mülheim aufgedeckt wurden, sind weitere Verdachtsfälle gemeldet worden. © dpa | Roland Weihrauch

Für Aufsehen sorgt auch das jetzt bekannt gewordene geschlossene Benutzerforum für Bedienstete der Sicherheitsbehörden namens „net4cops“. Dort sollen nach Erkenntnissen der Kölner Polizei mindestens fünf weitere Bedienstete aus NRW mit rechtsgerichteten Äußerungen aufgefallen sein, die zumindest disziplinarrechtlich relevant sein könnten.

Rechte Chat-Gruppen: Neun Terabyte Daten sichergestellt

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Wenig deutet darauf hin, dass sich die Lage schnell wieder beruhigen wird. Allein im Fall der Mülheimer Chat-Gruppen hat die Bochumer Ermittlungseinheit „Parabel“ bei den Kollegen über 200 elektronische Speichermedien mit einem Volumen von neun Terabyte sichergestellt. Das Material muss erst noch ausgewertet werden und könnte schlimmstenfalls sogar Verbindungen der Polizei ins Neonazi-Milieu zu Tage fördern.

Schon jetzt geht man dem möglichen Kontakt eines Chat-Teilnehmers zur rechtsextremen Bürgerwehr „Steeler Jungs“ aus Essen nach. Es gebe „einen Hinweis“, der geprüft werde, sagt Reul im Landtag. Es gehe um eine Facebook-Verbindung. „Ob es solche Verbindungen dann tatsächlich im echten Leben gibt oder gab und ob diese auch straf- und disziplinarrechtlich relevanter Natur sind, wird ermittelt“, so Reul.

Auch der Fall eines ehemaligen Kommissarsanwärters in Essen werde noch einmal von einer Sonderinspektion aufgearbeitet werden, kündigte Reul an. Der Mann hatte über seinen Vater, einen ehemaligen Staatsanwalt, jüngst Hinweise auf angeblich strukturellen Rassismus und rechtsextreme Gewalt in der Polizei-Wache Essen-Mitte öffentlich gemacht. Strafrechtliche Ermittlungen dazu waren jedoch im Sande verlaufen.

Reul lud schon 2019 alle Polizisten zum „Wertedialog“

Politisch bemüht sich der Innenminister erkennbar, noch einmal seinen Coup nach der Enttarnung des jahrelangen Kindesmissbrauchs auf einem Campingplatz im ostwestfälischen Lügde zu wiederholen. Damals gab er den unerschrockenen Aufklärer und krempelte die Ermittlungsarbeit in diesem Deliktbereich landesweit komplett um. Bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus in den eigenen Reihen fällt es gleichwohl schwerer, mit eisernem Besen durchzukehren.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am 24. September 2020 im Innenausschuss des Landtags.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am 24. September 2020 im Innenausschuss des Landtags. © dpa | Federico Gambarini

Es geht schließlich um Selbstverständnis und Autorität des gesamten Sicherheitsapparats. Lange wurde überdies bestritten, dass die NRW-Polizei überhaupt ein „Rechts“-Problem haben könnte. Der Instinktpolitiker Reul wird heute dankbar sein, dass er schon 2018 eine Überprüfung des Verfassungsschutzes für Kommissarsanwärter einführte, 2019 alle Beamten zum „Wertedialog“ einlud und Anfang dieses Jahres jeder Behörde einen „Extremismusbeauftragten“ aufzwang. Nichtstun muss er sich in der delikaten Frage nicht nachsagen lassen.

Doch funktionieren die „Selbstreinigungskräfte“ des Apparat mit 50.000 größtenteils tadellosen Bediensteten wirklich, wie Reul meint? Die einflussreiche Gewerkschaft der Polizei (GdP) warnt bereits vor einem zu pauschalen Urteil und nimmt sogar die passiven Chat-Teilnehmer in Schutz. In einer GdP-Mitteilung heißt es: „Natürlich müssen sich die Beteiligten fragen lassen, warum sie auf die unerträglichen Posts ihrer Kollegen nicht sofort reagiert haben. Das war ein Fehler. Aber das macht sie noch nicht zu Nazis.“