Essen. Arbeitsblätter scannen und verschicken reicht in Zukunft nicht mehr. Lehrer müssen in der Digitalisierung eine ganz neue Rolle einnehmen.

Für rund 2,5 Millionen Schüler soll nach den Sommerferien wieder alles so sein wie zuvor. Geht es nach Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP), beginnt am 12. August an den knapp 6000 Schulen ein „verantwortungsvoller Regelbetrieb“. Ob die Pandemie dies zulässt, ist angesichts zuletzt wieder steigender Infektionszahlen in NRW indes fraglich.

Unter Lehrern und Eltern ist die Skepsis groß, viele rechnen mit regionalen Schulschließungen. Weiterhin fehlen vielerorts Lehrkräften, Ausstattung, IT-Personal, schnelles Internet und Fortbildungen. Trotz der Erfahrungen des letzten Schuljahrs fühlen sich viele Lehrkräfte von den neuen Anforderungen überfordert. Schulen und Lehrer müssen sich dennoch auf neue Phasen des Fernunterrichts einstellen.

Jedem ein Gerät – bedeutet das schon Digitalisierung?

Das NRW-Schulministerium hat auf die Notlage reagiert. Mit zahlreichen Maßnahmen sollen zusätzliche Lehrkräfte gewonnen werden. Zudem investieren Land, Bund und Kommunen knapp 180 Millionen Euro in mobile Endgeräte. Alle rund 200.000 Lehrkräfte sollen einen Dienst-Computer erhalten, etwa 350.000 Kinder aus einkommensschwachen Haushalten werden sich von ihren Schulen Tablet-PC oder Laptops leihen können. Insgesamt fließen rund 350 Millionen Euro in die Digitalisierung der Schulen in NRW.

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Jedem ein Gerät – reicht das? Meistern die Schulen damit die fällige Digitalisierung? „Nein, das reicht nicht“, sagt Ramona Lorenz, Erziehungswissenschaftlerin und Expertin für digitale Medien in Schule und Unterricht am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU-Dortmund. Die Schüler müssten die Geräte auch „sinnvoll und lernförderlich“ benutzen können.

Schüler und Lehrer haben digitalen Nachholbedarf

Frühere Studien (ICILS 2018) unter Achtklässlern in NRW ergaben, dass die Schüler zwar gut mit ihrem Smartphone umgehen können, jedoch oftmals daran scheitern, im Internet zu recherchieren. Mehr als ein Drittel der NRW Mittelstufenschüler besaß nur „sehr einfache“ PC-Anwendungsfertigkeiten. Sie waren gerade einmal in der Lage, einen Link anzuklicken oder eine E-Mail zu öffnen. Wie soll da Fernunterricht gelingen?

Zumal auch die Lehrkräfte Nachholbedarf haben. „Die Pädagogen sind nicht darauf vorbereitet, digitale Medien im Unterricht flächendeckend einzusetzen“, sagt Lorenz. Bislang wurden Computer eher ergänzend zum Präsenzunterricht eingesetzt. Eine r epräsentative Umfrage des Deutschen Schulportals ergab, dass 69 Prozent der Lehrkräfte Defizite im Umgang mit digitalen Lernformaten sehen. Fortbildungen seien nötig, doch das sei „in der Breite nicht in Sicht“, so Lorenz. Oft würden Lehrer, die sich gut auskennen, nebenbei noch ihre Kollegen schulen.

Das „umgedrehte Klassenzimmer“

Ein Großteil der Lehrer versucht bislang, den klassischen Unterricht möglichst direkt auf den Fernunterricht zu übertragen. Zum Beispiel Arbeitsblätter scannen und per Email verschicken. Ramona Lorenz findet das kritisch, denn der Fernunterricht verändert die Rolle der Lehrer fundamental. Experten sprechen vom „umgedrehten Klassenzimmer“: Im klassischen Unterricht findet die Wissensvermittlung in der Schule statt. Die Schüler vertiefen ihr Wissen anschließend zu Hause und der Lehrer kontrolliert das Ergebnis.

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Im Fernunterricht aber erarbeiten sich die Schüler das Wissen vor allem selbst. „Das Lernen wird nach Hause verlagert, der Lehrer kann die Lernprozesse nicht mehr so direkt steuern wie in der Klasse“, sagt Lorenz. Lernergebnisse können somit ganz unterschiedlich ausfallen.

Herausforderung für Lehrer und Schüler

Das bedeutet, dass Lehrer in Zukunft mehr Orientierung und Hilfe bei der Online-Arbeit geben müssen. Ihre Rolle wandelt sich vom „Experten zum Lernbegleiter“. Auch für Schüler sei die geforderte Motivation und Selbstständigkeit beim Lernen zu Hause eine große Herausforderung, weiß Lorenz. Vor allem für Kinder, die viel Unterstützung benötigen.

„Hier sind deine Aufgaben, werde bis Morgen fertig!“ – damit kämen nicht alle Kinder nicht klar. Viele benötigten den direkten Austausch mit Lehrern oder Mitschülern. „Man muss daher die isolierte Lernsituation aufbrechen“, sagt Lorenz und weist darauf hin, dass es eine Vielzahl digitaler Formate gibt, die ein gemeinsames Arbeiten auf Distanz ermöglichen. „Man muss sie nur einsetzen.“

>>>> Vorbehalte gegen Digitalisierung

Knapp die Hälfte der Schulleiter ist der Meinung, dass es Vorbehalte im Kollegium beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht gibt. Dies zeigte eine Umfrage der Uni Duisburg-Essen vor zwei Jahren. Der Nutzen der Medien für den Unterricht werde „überbewertet“, ergab der „Schulleitungsmonitor“, entscheidend sei die Persönlichkeit des Lehrers.

Solche Vorbehalte gebe es immer noch, meint Ramona Lorenz von der TU-Dortmund. Allerdings gebe es durch neue Lernpläne und die Folgen der Pandemie „für Schulen und Lehrer keinen Weg mehr, um daran vorbei zu kommen“.