Essen. In jeder Schulklasse kann es Missbrauchsopfer geben, sagt der Traumatherapeut Christian Lüdke. Warum die Taten dennoch oft unbemerkt bleiben

Der erschütternde Missbrauchsfall in Münster macht nicht nur die Ermittler fassungslos. Ob Lügde, Bergisch-Gladbach oder nun die Kleingartensiedlung im Münsteraner Stadtteil „Kinderhaus“ – immer wieder stellt sich die Frage, wieso derartige Fälle so lange unbemerkt bleiben konnten. Dabei wird nach Ansicht von Experten oftmals nur die Spitze des Eisbergs sichtbar. „Jedes vierte Mädchen und jeder siebte Junge wird statistisch Opfer von sexualisierter Gewalt“, sagt der Essener Kinder- und Jugendpsychotherapeut Christian Lüdke (60) im Gespräch mit Christopher Onkelbach. „Das bedeutet, in jeder Schulklasse könnte es Missbrauchsopfer geben.“

Wieso bleiben solche Taten oftmals jahrelang unentdeckt?

Christian Lüdke: Das hat mehrere Gründe. Die Mehrheit der Missbrauchsfälle geschehen im familiären und privaten Umfeld. Zudem sind die Täter oft Meister der Tarnung. Hinter der Fassade einer gepflegten Laube einer Kleingartensiedlung vermutet man zunächst keine schlimmen Taten. Es ist ein familiärer Bereich. Zudem passen sich die Täter an ihr Umfeld an, erschleichen sich Vertrauen, sind freundlich und hilfsbereit. Dazu passt, dass der 27-jährige Hauptbeschuldigte die Kleingartenanlage mit Wlan ausgestattet hat.

Warum vertrauen sich die Kinder niemandem an?

Die Opfer werden oft massiv eingeschüchtert. Sie haben oft sehr große Angst. Sie glauben den Drohungen der Täter, wenn diese sagen: wenn du etwas erzählst, passiert etwas mit deiner Mutter. Manche denken auch, dass sie eine Mitschuld haben, weil sie ja mitgegangen sind. Und dass man ihnen sowieso nicht glauben würde. So legt sich ein Mantel des Schweigens über den Missbrauch.

Ist das Umfeld der Kinder nicht aufmerksam genug?

Der geschulte Blick kann Verhaltensauffälligkeiten erkennen. Wenn das Kind plötzlich verstummt und sich isoliert. Oder wenn es scheinbar grundlos aggressiv wird, gegen andere Kinder oder auch gegen sich selbst. Das zeigt, dass dieses Kind unter einem enormen emotionalen Stress steht.

Was kann man in solchen Fällen tun?

Man sollte die Kinder immer wieder darauf ansprechen. Oft reagieren sie nicht sofort darauf, offenbaren sich nicht. Aber sie erfahren dadurch, dass sich jemand kümmert, dass jemand mitbekommt, dass es ihm nicht gut geht. Auch wenn das Kind dutzende Male abweisend reagiert, irgendwann wird es reden.

Senden missbrauchte Kinder Signale aus?

Diese Verhaltensauffälligkeiten sind Warnzeichen. Oft reagieren sie auch mit psychosomatischen Signalen, etwa mit Schlafstörungen, diffusen Kopf- oder Bauchschmerzen, großer Unruhe. Junge Opfer entwickeln auch Vermeidungsstrategien und sagen etwa: Ich will da nicht mehr hingehen. Es gibt immer wieder Signale, man muss nur eine Antenne dafür haben, sie verstehen und ernst nehmen.

Müssten Lehrer aufmerksamer sein?

Das ist nicht immer einfach. Manche Kinder kompensieren den emotionalen Druck, schreiben gute Noten, sind womöglich Klassenbeste und holen sich so die ersehnte Aufmerksamkeit. Lehrer bekommen die Probleme dann gar nicht mit. Dabei ist bekannt, dass statistisch jedes vierte Mädchen und jeder siebte Junge Opfer sexualisierter Gewalt wird. Es gibt ja zahlreiche gute Informations- und Aufklärungsprogramme. Das müsste viel intensiver und häufiger gemacht werden.

Warum greift das Umfeld so selten ein?

Das Thema ist immer noch mit einem großen Tabu belegt. Viele haben auch Angst, sich einzumischen. Wir nennen das den Zuschauereffekt. Je mehr Leute etwas mitbekommen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eingreift. Alle erwarten, dass andere aktiv werden müssten. Wieso also gerade ich? Letztendlich schreitet gar keiner ein.

Es heißt, dass Missbrauchstäter zuvor oft selbst Opfer waren…

Ja, in vielen Fällen sind sie als Kind selbst Opfer gewesen. Viele Täter wiederholen ihr Trauma-Schema immer wieder, stellen die Szenarien oftmals genau nach, die sie selbst erlebt haben. So wollen sie das Gefühl der Ohnmacht, das sie als Opfer erlebt haben, in Macht und Stärke umwandeln. Das ist wie eine Droge, die eine immer stärkere Dosis verlangt.

Wie erklären Sie sich, dass Eltern ihre eigenen Kinder missbrauchen oder missbrauchen lassen?

Das ist schwer zu erklären. Diese Menschen haben eine massive Bindungsstörung und nie eine liebevolle Beziehung zu ihrem Kind aufgebaut. Sie sehen es als ihr Eigentum an, ein Objekt, das man benutzen kann. Sie haben keine Empathie, kein Mitgefühl und kein Unrechtsbewusstsein. Normalerweise wollen Eltern ihre Kinder immer beschützen, diesen Impuls verspüren sie nicht.

Wie kann man betroffenen Kindern helfen?

Das ist sehr schwer. Je früher die Traumatisierung beginnt, desto mehr wird die Persönlichkeit des Kindes zerstört. Ihr Grundvertrauen wurde ihnen genommen. Es ist sehr schwer, dies wieder aufzubauen. Man kann versuchen, den Opfern Ruhe zu geben, sie zu stabilisieren und ihnen dabei zu helfen, wieder am Leben teilzunehmen, ohne dauernd an die Taten denken zu müssen. Es gibt Fälle, da schaffen es die Kinder nicht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Der Schmerz hat sich tief in die Kinderseele eingebrannt.

Müsste das Umfeld eher einschreiten?

Jeder kann davon ausgehen, dass in seiner Nachbarschaft Missbrauch geschieht. Diese Fälle gibt es überall. Aber man kann sich das nicht vorstellen, darüber schwebt ein großes Tabu. Oft fehlt auch der Mut, sich einzumischen. Das macht es den Tätern leichter.