Köln. Lügde zeige das Versagen der Jugendpolitik in NRW, kritisiert die Traumatherapeutin Ursula Enders. Sie fordert Hilfe für die Missbrauchsopfer.

Über viele Jahre wurden auf einem Campingplatz in Lügde 34 Kinder sexuell missbraucht. Die Behörden gehen von mindestens 1000 Fällen aus. Immer mehr grausame Details kommen ans Licht. So steht nun ein alleinerziehender Vater im Verdacht, seine Kinder den mutmaßlichen Tätern zum Missbrauch „zugeführt“ zu haben.

Längst hat sich der Fall zu einem Behördenskandal ausgeweitet, es wird gegen Jugendamtsmitarbeiter und Polizisten ermittelt. Dabei sind die Opfer der Taten aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Wieso konnte der Missbrauch so lange unentdeckt bleiben, wo hat das Umfeld versagt und mit welchen Folgen müssen die Kinder leben? Darüber sprach Christopher Onkelbach mit der Traumatherapeutin Ursula Enders, Leiterin der Fachberatungsstelle Zartbitter in Köln.

Frau Enders, was geschieht, um den Opfern zu helfen?

Ursula Enders: Bei Unfällen und Katastrophen wird sofort ein Krisenstab von Experten zusammengerufen, der die Opfer betreut und die Hilfen für alle Beteiligten koordiniert. Das ist meines Wissens im Fall Lügde nicht passiert. So benötigen sicherlich auch viele junge Mitarbeiterinnen der Jugendämter Unterstützung, die durch öffentliche Anfeindungen und Stress der Vorgesetzten zweifelsfrei extrem belastet sind. Die Landesregierung und die Landesjugendämter hätten längst entsprechende Maßnahmen einleiten müssen. Es gibt zusätzliche Ermittler, aber kein Team von Trauma-Experten. Das bedeutet, dass Kinder, Eltern und Fachkräfte seit Wochen massivem Druck ausgesetzt sind. Das erhöht das Risiko für Langzeitfolgen für alle Beteiligten.

Missbrauch in Lügde – Fallserie erschreckender Dimension

Was muss jetzt passieren?

Die Kinder benötigen jetzt Ruhe, Hilfe, Sicherheit und einen möglichst normalen, kindgerechten Alltag. Ebenso benötigen sie Begleitung von traumapädagogisch qualifiziertem Fachpersonal, das in belastenden Situationen adäquat reagieren kann. Eine therapeutische Aufarbeitung kann erst nach Beendigung des Strafverfahrens geleistet werden.

Mit welchen Folgen müssen die Opfer leben?

Massiver Missbrauch verursacht meist eine komplexe Folgeproblematik. Das kann sich in Form unterschiedlicher Symptome zeigen. Etwa in massiven Stimmungsschwankungen, Kontrollverlust – zum Beispiel wenn alltägliche Ereignisse zu extremen Verhaltensweisen führen wie Erstarrung, Weinkrämpfe oder Wutanfälle. Traumatische Erlebnisse können auch zu Einnässen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen führen. Doch nicht nur die Kinder, auch Eltern benötigen Hilfen.

Warum auch die Eltern?

Sofern die Eltern ahnungslos waren, sind sie in der Regel ebenfalls stark belastet. Häufig machen sie sich Fantasien über die Missbrauchshandlungen gegen ihr Kind. Sie leiden nicht selten unter massiven Folgeproblematiken – als sei ihnen selbst Gewalt zugefügt worden.

Nun kam ans Licht, dass Eltern ihre Kinder den Tätern zugeführt haben...

Es war davon auszugehen, dass in Lügde auch Eltern ihre Kinder zugeführt haben. Dies ist in Fällen organisierter pornografischer Ausbeutung von Kindern keineswegs selten.

Mehrfach wurde ein Wohnwagen auf dem Campingplatz nach Beweismaterial durchsucht.
Mehrfach wurde ein Wohnwagen auf dem Campingplatz nach Beweismaterial durchsucht. © Ralf Rottmann

Wie können Eltern ihren das Kindern antun?

Darauf habe ich keine Antwort. Diese Eltern sind gleichermaßen Täter wie die Missbraucher. Ich kann es mir nur so erklären: Sie haben keine wirkliche Liebesfähigkeit. Sie treten zwar oft freundlich, sympathisch und charmant auf, doch hinter dieser Maske versteckt sich eine „Seelenwüste“, eine Unfähigkeit zum Mitgefühl, noch nicht einmal mit kindlichen Opfern. Ein derart unmenschliches Verhalten ist letztlich auch nicht mit eigenen Gewalterfahrungen zu entschuldigen. Es gibt viele Betroffene, die zu besonders sensiblen und aufmerksamen Menschen werden und sich für den Schutz von Kindern einsetzen.

Kennen Sie solche Menschen?

Ich führe hier oft auch Gespräche mit Tätern oder Eltern, die ihre Kinder ausgeliefert haben. Sie sind auf den ersten Blick oft sympathisch. Auf den zweiten zeigt sich oftmals, dass es ihnen nur um eigene Interessen geht. Sie betrachten ihre Kinder als Objekte. Ich wäre keineswegs erstaunt, wenn im Fall Lügde auch aufgedeckt würde, dass einzelne Eltern ihre Kinder regelrecht verkauft haben. Ich habe aufgehört, nach Erklärungen für ein solches Verhalten zu suchen.

Was macht das mit den Kindern?

Viele sind später zutiefst erschüttert, wie unwichtig sie ihren Eltern waren. Das ist eine Erfahrung massiver psychischer Gewalt.

Können Kinder das jemals überwinden?

Ich bin oft darüber erstaunt, welch immense Selbstheilungskräfte Kinder haben. Wenn sie qualifizierte Hilfe bekommen und geschützt werden, haben sie durchaus die Chance, wieder ein relativ normales Leben zu führen.

Wie konnte der Missbrauch so lange unentdeckt bleiben?

Die Kinder haben sicherlich deutliche Signale gesendet. Sicher, es gibt Kinder, die verstummen und Gewalterfahrungen abspalten. Aber gerade viele junge Opfer plappern häufig. Bei einer so großen Zahl von Betroffenen ist es höchst unglaubwürdig, dass es keine Hinweise gegeben haben soll. Da haben Eltern, Lehrer, Erzieher aber auch das Jugendamt versagt. Sie haben weggehört.

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Warum hat niemand bei dem Pflegevater Verdacht geschöpft?

Nur wer ein fundiertes Wissen über Täterstrategien hat, kann diese entlarven. Täter sind Künstler der Manipulation, sie tragen Masken. Sie sind sehr geschickt darin, sich selbst in ein positives Licht zu stellen, zum Beispiel als engagierter Kinderfreund. Sie manipulieren nicht nur Kinder, sondern vernebeln auch die Wahrnehmung der Umwelt. Sie wirken oftmals sympathisch und großzügig. Vor allem verstehen sie es, Intrigen zu ihrem eigenen Schutz zu säen.

Haben die Jugendämter hier versagt?

Viele Jugendamts-Mitarbeiter haben nur ungenügendes Wissen über Täterstrategien. Die meisten Fachkräfte sind für die Hilfe in Fällen sexuellen Missbrauchs nicht ausreichend qualifiziert. Und NRW hat bislang die Beratungsstellen nur ungenügend abgesichert. Für mich wird in Lügde das komplette Versagen der Jugendpolitik in den vergangenen 20 Jahren sichtbar.

Wie kann man solchen Taten vorbeugen?

Es ist ein Irrtum wenn man glaubt, Kinder durch Trainings und Warnungen vor Missbrauch schützen zu können. Viele bringen Kindern zum Beispiel bei, dass sie Nein sagen und nicht in fremde Autos steigen sollen. Das überlässt aber den Kindern die Verantwortung für den eigenen Schutz. Das ist kontraproduktiv.

Wie muss Präventionsarbeit stattdessen aussehen?

Sie darf keine Angst machen, denn Angst lähmt. Sie muss die Lebensfreude der Kinder stärken und sie in altersgerechter Weise über Formen sexueller Grenzverletzungen informieren und ihnen Mut machen, sich sofort Hilfe zu holen. Gefordert sind vor allem die Erwachsenen. Sie müssen aktiv werden, wenn Kinder ihnen zum Beispiel anvertrauen: Ich will nicht, dass mir jemand zwischen die Beine fasst.

>>>>Beratungsstelle Zartbitter

Zartbitter in Köln ist eine der ältesten Kontakt- und Informationsstellen gegen sexuellen Missbrauch in Deutschland, die sowohl betroffenen Mädchen als auch Jungen Unterstützung anbietet. Schon früh befasste sich die Beratungsstelle auch mit Themenbereichen wie sexuelle Übergriffe unter Kindern, sexueller Missbrauch in Institutionen, in den neuen Medien, bei Pornoproduktionen, im Sport sowie Frauen als Täterinnen.

Das Team bietet Krisenintervention und Beratung an, berät Institutionen und erstellt Informationsmaterialien. Mit Theaterstücken, Hörspielen und Workshops für Kinder leistet Zartbitter einen Beitrag zur Prävention. Der Verein ist nur zu knapp 50 Prozent öffentlich finanziert und auf Spenden angewiesen.