Essen. Frauen aus Osteuropa, die stillen Helfer im deutschen Pflegewesen, bleiben wegen Corona in ihrer Heimat. Das setzt Familien verstärkt unter Druck.
Der Anruf kam an einem Montag, nur einen Tag, bevor Jola aus Polen zurückkommen sollte. Ihre Familie wolle nicht, sagte die Polin am Telefon, dass sie wieder nach Deutschland reise. Zu groß die Sorge vor einer Corona-Infektion. Heinz Neumann war überrumpelt: „Meine Mutter ist dement, seit Jahresanfang wird sie zu Hause betreut“, sagt der 66-Jährige. Jola wohnte als häusliche Helferin bei der Mutter, machte den Haushalt, kaufte ein, wusch und beschäftigte die 85-Jährige. Und nun? „Wir mussten als Familie erst einmal schauen, wie wir die Betreuung so plötzlich alleine stemmen“, sagt der frühere Gastronom aus Ratingen.
Bis zu 300.000 häusliche Helfer
Sie sind die stillen Helfer im deutschen Pflegewesen: Frauen aus Osteuropa, die bei pflegebedürftigen Menschen in Deutschland oft mehrere Wochen am Stück wohnen und sie so 24 Stunden am Tag betreuen. Sie sind keine Pflegekräfte, erledigen aber die Grundpflege und den Haushalt. Niemand weiß genau, wie viele es sind. Schätzungen sprechen von 200.000 bis 300.000. In Zeiten des Corona-Virus dürften es deutlich weniger sein. Der Verband für häusliche Betreuung und Pflege warnt vor einer Versorgungslücke. Die Angst vor Infektionen sei hoch, Quarantäne-Regeln streng. Zudem gebe Deutschland den Beschäftigen kaum Anreize zu bleiben.
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„Aufwendig und blitzschnell hat sich Deutschland darum gekümmert, dass Erntehelfer aus Rumänien unseren Spargel stechen dürfen“, beklagt Verbandsgeschäftsführer Frederic Seebohm. „Aber Hunderttausende von Betreuungspersonen, die sich um unsere Senioren kümmern, die fallen unten durch.“ Während Österreich etwa Bleib-da-Prämien zahle und Transitabkommen für häusliche Betreuerinnen abgeschlossen hätte, profitierten die ausländischen Kräfte in Deutschland nicht einmal von einem von der Bundesregierung für die Altenpflege beschlossenen Lohn-Zuschuss.
Kein Gesundheitsamt weiß, dass sie in den Haushalten leben
Der Verband vertritt knapp 30 Vermittlungsagenturen. Was die Versorgung aber erschwert: Etwa 90 Prozent der Betreuerinnen werden - anders als Jola - gar nicht legal vermittelt, sondern von den Familien schwarz bezahlt. In Corona-Zeiten heißt das auch: Die Betreuerinnen haben keine deutsche Krankenversicherung, ohne Arbeitsvertrag ist für sie der Grenzübergang eigentlich verboten, ihre Aufklärung in Sachen Infektionsschutz ist nicht gesichert organisiert und mehr noch, kein Gesundheitsamt weiß, dass sie in den Haushalten leben. „Der Staat nimmt die hohe Zahl schwarz Beschäftigter in der häuslichen Betreuung seit Jahren hin“, meint Seebohm. „In Corona-Zeiten ist das fahrlässig. Die Betreuungspersonen sind schutzlos.
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„In der Folge kommen immer mehr Illegale nicht mehr nach Deutschland. „Derzeit melden sich vermehrt Familien, die die Betreuung bisher privat organisiert haben“, berichtet Sebastian Nocon. Er leitet seit 2011 die Vermittlungsagentur „Lebenshilfe24 GmbH“ in Mülheim mit rund 200 Kunden in ganz Deutschland und bemerkt: Weil illegal Beschäftigte wegbleiben, suchen die Familien legale Alternativen.
Neun von zehn arbeiten illegal
Die vielen zusätzlichen Anfragen ließen sich derzeit nur schwerlich bedienen. „Uns stehen aktuell weniger geprüfte und erfahrene Kräfte zur Verfügung, weil die wiederum in Corona-Zeiten in ihrem Heimatländern geblieben sind“, sagt Nocon. Bestandskunden hätten Vorrang.
Der Corona-Krise will Nocon dennoch etwas Positives abgewinnen: Abgeschreckt von Grenzkontrollen und Abweisungen könnten bisher illegal Beschäftigte nun den Weg in eine legale Beschäftigung suchen. „Ich sehe die Chance, dass diese Kräfte uns dann zu Verfügung stehen.“ Die aktuelle Lücke ist nach Einschätzung von Experten nur schwerlich zu schließen. „Die Versorgungslage von Pflegebedürftigen spitzt sich dadurch weiter zu“, sagt Michael Isfort, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung mit Sitz in Köln. Vielfach verlängerten Betreuerinnen ihre Einsätze in Deutschland zwar, ambulante Dienste hätten zudem wieder mehr Kapazitäten frei. „Letztlich sind es aber auch die Familien, die in Zeiten des Homeoffice als Betreuer einspringen.“
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So wie im Falle der Neumanns. Nach Jolas Absage hat sich die Familie einen Notfallplan überlegt. Zum Glück ist die Familie groß. „Wir haben das ganz gut aufgeteilt. Für meine Mutter war es aber schwierig und verwirrend. Sie hat natürlich gemerkt, dass etwas nicht stimmt“, sagt Neumann. Zweieinhalb Wochen mussten überbrückt werden, bis die neue Betreuerin, die die Lebenshilfe24 gefunden hatte, nach Deutschland kommen konnte. Und Mutter Neumann war zufrieden: „Sie ist wesentlich klarer, ihr geht es richtig gut“, berichtet der Sohn. Zu Hause werde jetzt oft André Rieu gespielt. „Den fand meine Mutter schon früher toll.“