Essen. In Petitionen und Aufrufen forderten Tausende Schüler die Absage der Abi-Prüfungen. Von der „Ignoranz“ der Politik sind viele enttäuscht.

Am kommenden Dienstag wird es ernst. Dann gehen in NRW knapp 90.000 Abiturienten in die ersten Abschlussklausuren. Alle Proteste, Eingaben und Appelle, die Prüfungen wegen der Corona-Krise abzusagen, blieben fruchtlos. „Frustriert, enttäuscht und wütend“ – so reagierten viele Abiturienten auf die Entscheidung der Landesregierung, an den traditionellen Abschlussprüfungen festzuhalten. Den „berechtigten Sorgen der Schülerschaft“ werde „mit bedauernswerter Kälte“ begegnet, klagen Schüler, die sich in dem Bündnis „Schulboykott NRW“ zusammengeschlossen haben.

Gute Vorbereitung kaum möglich

Während die Landesregierung die stufenweise Rückkehr zur Normalität plant, fordern Zehntausende Schüler in Appellen, Briefen und Online-Petitionen eine Absage der Abi-Klausuren. Einhelliger Ton: Die Jugendlichen fühlen sich von der Politik übergangen und im Stich gelassen. Die Klausuren trotz der Coronakrise schreiben zu müssen, sei falsch, gefährlich und sozial ungerecht.

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„Stellen Sie sich vor, Sie sind gerade so volljährig und möchten Abitur machen“, schreiben Schüler des Abiturjahrgangs eines Gymnasiums in Dorsten. „Und plötzlich bricht eine Pandemie aus.“ Die Mottowochen werden abgesagt, alle müssen nach Hause. Noch schlimmer: Dort hätten viele weder die Ruhe noch die Mittel, um den Stoff nachzuholen. „Außerdem ist die Stimmung nicht gut.“ Eltern sind angespannt, Verwandte oder Freunde womöglich krank – wie soll man sich da auf die wichtigste Prüfung des bisherigen Lebens konzentrieren? „In diesem Chaos müssen Sie lernen!“ Nur wie?

Schüler fordern das „Durchschnittsabitur“

Dass von der Politik behauptet werde, nur mit schriftlichen Prüfungen könne ein Abschluss unter den Bundesländern anerkannt werden, weisen sie zurück. Selbst mit den geforderten Prüfungen sei das diesjährige Abi nicht mit den Abiturprüfungen der Jahre davor vergleichbar.

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Von Matthias Korfmann, Christopher Onkelbach, Jan Jessen

Die Schüler fordern daher ein „Durchschnittsabitur“ und den Verzicht auf die umstrittenen Prüfungen. „Denn das einzige, was bei uns so verlaufen ist wie in den Jahrgängen davor, sind die letzten beiden Jahre der Qualifikationsphase, aus deren Bewertungen ein Durchschnittsabitur gebildet würde“, heißt es in dem von gut 70 Schülern unterzeichneten Appell. Die Abiturienten sehen darin die „fairste Lösung“, die am ehesten eine Vergleichbarkeit der Abschlüsse ermöglichen würde.

Der digitale Unterricht funktioniere nicht gut

In zahlreichen Petitionen und Aufrufen kritisieren die Schüler, dass die Landesregierung ihre Nöte und Anregungen ignoriere: „Wir haben das Gefühl, von den führenden Politikern im Stich gelassen zu werden und Teil ihrer Prinzipienreiterei der verfrühten Öffnung geworden zu sein.“ Ganz ähnlich klingt es in einem Aufruf von Mülheimer Schülern: „Die Politiker entscheiden über unsere Zukunft, aber wir haben nicht das Gefühl, daran wirklich beteiligt zu sein.“ Das werde bei der nächsten Landtagswahl nicht vergessen sein.

schüler wollen selbst über abi-prüfungen entscheiden

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Vielen gehe es in der „sozialen Isolation schlecht“ und fühlten sich nicht ausreichend auf das Abi vorbereitet. Und auch der digitale Unterricht funktioniere nicht gut. „Dies kann den normalen Unterricht nicht ersetzen.“ Die Schüler schließen sich der wiederholt vorgebrachten Forderung der Landesschülervertretung an und verlangen ein „Durchschnittsabitur mit freiwilligen Prüfungen für alle“.

Politik ignoriere Kritik und Beschwerden

Unzufriedenheit, Unverständnis und Ärger über die Entscheidungen der NRW-Regierung klingt auch in einem „offenen Brief an die Politik“ von Schülern aus Dutzenden Schulen im gesamten Ruhrgebiet an: „Unsere Anliegen, Wünsche und Bedürfnisse werden konsequent ignoriert.“ Petitionen und Meinungen von Lehrer-, Schüler- und Elternverbänden würden nicht beachtet. „Auch unter psychologischen Gesichtspunkten ist die aktuelle Situation für alle Beteiligten nicht tragbar.“

Schulpsychologen versuchen unterdessen, die Abiturienten in der schwierigen Situation zu unterstützen. Je länger die unterrichtsfreie Zeit andauere, desto mehr würden sich persönliche Fragen häufen, meint Cornelia Heinz von der Landesstelle Schulpsychologie: Was kann ich tun, um zu Hause eigenständig zu lernen? Wie gehe ich mit meinen Zukunftssorgen, mit meiner Prüfungsangst um? Die Expertin rät den Schülern, sich zunächst an ihre Klassen- oder Betreuungslehrer zu wenden. In jeder Stadt gebe es zudem schulpsychologische Beratungsstellen.

Den Prüflingen viel Glück

„Wir wünschen den Prüflingen viel Glück“, schreibt David-Luc Adelmann von „Schulboykott NRW“ mit bitterer Ironie. „Und allen, die durch diese Entscheidung mit Corona angesteckt werden, einen milden Krankheitsverlauf.“

>>>> Zeitplan für das Abitur 2020

NRW hat entschieden, dass die schulischen Abschlussprüfungen möglichst stattfinden sollen, teilt das Schulministerium mit. Die Abiturprüfungen für rund 88.000 angehende Abiturientinnen und Abiturienten an Gymnasien, Gesamtschulen, Weiterbildungskollegs und Waldorfschulen sowie an den Beruflichen Gymnasien der Berufskollegs beginnen am Dienstag, 12. Mai 2020.

Letzter Prüfungstermin ist Montag, der 25. Mai. Die zentralen Nachschreibetermine für die Abiturprüfungen an den allgemeinbildenden Schulen schließen sich dann unmittelbar ab dem 26. Mai an und dauern bis zum 9. Juni.