Essen/Paderborn. In der Corona-Krise zeigt sich der Rückstand bei der Digitalisierung der Schulen in NRW deutlich. Die Dimension zeigt nun eine Studie auf.

Der Rückstand bei der Digitalisierung der Schulen in NRW wird während der Corona-Krise besonders deutlich. An den meisten Schulen (66 Prozent) fehlt ein Gesamtkonzept, das die Versorgung der Schülerinnen und Schüler mit Lernangeboten für die Zeit der Schulschließungen sicherstellt. Fast ein Viertel der Lehrkräfte fühlt sich bei der Vorbereitung des Online-Unterrichts komplett auf sich allein gestellt.

Dies sind Ergebnisse einer repräsentativen Studie im Auftrag der Vodafone Stiftung, die erstmals die Situation der Schulen und Lehrkräfte Unterrichts während der Schulschließungen untersucht hat.

Soziale Ungleichheit verschärft sich

Danach befürchtet gut die Hälfte der Lehrkräfte (51 Prozent), dass sich durch die Schulschließungen bestehende soziale Ungleichheiten unter den Schülern weiter verschärfen. „Viele Familien können ihre Kinder nicht bei den Lernprozessen begleiten, selbst wenn sie es wollten“, sagte Studienleiterin Birgit Eickelmann dieser Redaktion. Die Erziehungswissenschaftlerin der Uni Paderborn ist Expertin für digitale Schul- und Unterrichtsentwicklung. „Besondere Sorge bereitet mir, dass man bisher nie umfassend daran gedacht hat, die Schüler mit digitalen Lerngeräten auszustatten und an Schulen flächendeckend digitale Lernplattformen einzurichten“, so Eickelmann.

Prof. Birgit Eickelmann, Erziehungswissenschaftlerin an der Uni Paderborn.
Prof. Birgit Eickelmann, Erziehungswissenschaftlerin an der Uni Paderborn. © UP | Foto: Uni Paderborn

Bei der Erhebung durch das Allensbach-Institut zeigte sich, dass viele Lehrkräfte nur einen Teil ihrer Schüler erreichen. Zwar ist mit 87 Prozent einer deutlichen Mehrheit der Lehrer der Kontakt zu ihren Schülern wichtig, doch gelingt es nur etwa einem Drittel der Lehrkräfte, Kontakt zu sämtlichen Schülern halten. Jede zehnte Lehrkraft hat nur zu wenigen Schülern Verbindung, drei Prozent erreichen niemanden, so die Studie.

NRW mit Nachholbedarf bei der Digitalisierung

Bereits im vergangenen Jahr hatte eine Vergleichsstudie unter Leitung von Prof. Eickelmann ergeben, dass NRW bei der Ausstattung der Schulen sowie bei den IT-Kenntnissen von Schülern und Lehrern Nachholbedarf hat. Nach der sogenannten ICILS-Studie 2018 besaß mehr als ein Drittel der Achtklässler in NRW nur „sehr einfache“ PC-Anwendungsfertigkeiten. Nur rund ein Drittel der Lehrer gab an, ihre Schule sei digital gut ausgestattet.

„Die Ausgangslage in NRW ist nicht nur im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich, sondern auch im Vergleich zu Deutschland insgesamt“, so Eickelmann heute. Die Pandemie-Situation beleuchte daher die Defizite im NRW-Schulsystem wie unter einem Brennglas. Nötig seien jetzt ein Hilfspaket für den Bildungsbereich sowie eine Taskforce mit allen Beteiligten nach dem Vorbild des Corona-Expertenrats in NRW.

Weitere Zentrale Studien-Ergebnisse

Auch wenn die Schulen vereinzelt wieder geöffnet werden, „müssen wir die Debatte um die Lehrkräfte-Qualifizierung, die Einführung digitaler Lernplattformen und die gezielte Unterstützung von Schülern aus bedürftigen Familien jetzt erst recht führen“, mahnte die Geschäftsführerin der Stiftung, Inger Paus. Weitere zentrale Ergebnisse der Studie:

Wie waren die Schulen vorbereitet?

Zwar haben fast alle allgemeinbildenden Schulen in der Zeit der Schließungen digitale Lernangebote zur Verfügung gestellt, doch mussten die meisten improvisieren.

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Nur ein Drittel der Lehrkräfte gab an, dass ihre Schule gut auf die neue Situation vorbereitet war. Doch gab es unter den Schulen gravierende Unterschiede: „Die Schulen und Lehrkräfte, die sich bereits vor der Corona-Pandemie digital auf den Weg gemacht haben, kommen besser durch die derzeitige Krise“, so Inger Paus von der Vodafone Stiftung.

Welcher Art waren die Lernangebote?

Die Mehrheit der Lehrer (63 Prozent) verschickte Aufgaben per Email. Ein deutlich geringerer Anteil nutzte einen Schulserver, eine Lernplattform oder eine Cloud, um Lernmaterial digital zur Verfügung zu stellen. 16 Prozent versorgten ihre Schüler mit Aufgaben per Telefon, per Post oder als Arbeitspakete zum Abholen. „NRW verfügt bis heute nicht über eine sichere, landesweit nutzbare Lernplattform für Schüler und Lehrer. Daher können Lehrer ihre Schüler nicht gut erreichen und erhalten keine Rückmeldung“, erklärt Eickelmann. Hier sei NRW im Vergleich zu anderen Bundesländern deutlich im Hintertreffen.

Verfügen Schulen über Konzepte für die Pandemie-Zeit?

An nur knapp einem Drittel der Schulen gab es ein Gesamtkonzept, das die Versorgung der Schüler mit Lernangeboten regelt. Von den weiterführenden Schulen (ohne Gymnasien) verfügten 39 Prozent über ein übergreifendes Konzept, Gymnasien mit 35 Prozent etwas weniger häufig, und Grundschulen mit 22 Prozent deutlich seltener. 24 Prozent der Lehrkräfte sagten, dass sie bei der Planung der Lernangebote auf sich allein gestellt sind.

Wie halten die Lehrer Kontakt?

Dazu nutzen Lehrkräfte vor allem Emails. Das Telefon nimmt etwa die Hälfte der Lehrer zu Hilfe, immerhin 20 Prozent sprechen mit den Schülern per Videochat.

Wie beurteilen die Lehrer den Lernerfolg?

Für die allermeisten Lehrer (77 Prozent) ist klar, dass die digitalen Lernangebote weniger effektiv sind als der reguläre Unterricht. Sie haben ihre Erwartungen an die Lernfortschritte daher deutlich gesenkt.

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Ein Drittel der Lehrer ist froh, wenn die Schüler den vor der Schließung erreichten Lernstand halten. 51 Prozent der Lehrer glauben zudem, dass sich der familiäre Einfluss negativ auf die Kinder auswirken könne und dadurch soziale Ungleichheiten verschärft werden. Studienleiterin Eickelmann bereitet das Sorgen: „Wir müssen hier nun unseren Kurs ändern, da die Schulen ja weiterhin nicht im Normalbetrieb laufen.“

Gibt es positive Schulbeispiele?

Schulen mit digitaler Erfahrung erwiesen sich als besonders krisenresistent, ergab die Studie. Schulen, die bereits zuvor regelmäßig digitale Technik im Unterricht einsetzten, verfügen weit häufiger über ein Konzept für „Schule auf Distanz“. Die Lehrer erreichen ihre Schüler problemloser und befürchten in geringerem Ausmaß, dass der Einfluss der Eltern auf die schulischen Leistungen wächst.

Was ist jetzt zu tun?

„Wir müssen jetzt eine längerfristige Perspektive entwickeln. Das Schulministerium muss mit allen beteiligten Akteuren bis zum Sommer tragfähige Konzepte entwickeln, die trotz der Situation einen guten Start in das neue Schuljahr ermöglicht“, sagt Birgit Eickelmann. Die Mittel aus dem bundesweiten Digitalpakt Schule würden nur zögerlich abgerufen, da die Beantragung zu bürokratisch sei.

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Zudem reduziere die Krise das Personal in den Schulen. „Wie Medizinstudenten derzeit in den Kliniken und Gesundheitsämtern helfen, könnten Lehramtsstudierende jetzt die Schulen unterstützen“, schlägt die Wissenschaftlerin vor. Das Geld dafür sollte aus einem Hilfspaket Bildung fließen, der jetzt nötig sei. Zudem müsse rasch eine sichere Lernplattform an den Start gehen. Eickelmann: „Viele Schulen sind in der Krise sehr engagiert. Sie brauchen jetzt klare Konzepte und Unterstützung der Landesregierung.“