Essen. Moodle-Seminare und Video-Vorlesungen statt Hörsaal und Bibliothek: Wegen der Coronakrise beginnt das Sommersemester erstmals komplett virtuell
Der Start in das erste digitale Semester in der Geschichte des Landes begann fast reibungslos. Jedenfalls für Prof. Michael Kerres an der Uni Duisburg-Essen. Zwar war keiner der rund 70 Studierenden seines Seminars anwesend, aber die Videokonferenz verlief technisch ohne Probleme.
Das Thema passte exakt in die Zeit: „Grundlagen der Mediendidaktik“. Also: Wie kann ich den Stoff mit Hilfe digitaler Medien so aufbereiten, dass er auch ankommt? Mancherorts war der digitale Semesterbeginn indes holpriger. So meldete etwa die Ruhr-Uni Bochum wegen erhöhter Zugriffszahlen auf die Lernplattform „Moodle“ überlastete Server, was zu längeren Wartezeiten und Systemausfällen geführt habe.
Leere Hörsäle, verwaiste Büros und Labore – das Leben an den Hochschulen in NRW steht still. Für die rund 780.000 Studierenden in NRW findet das Sommersemester 2020 wegen der Corona-Pandemie vorerst ausschließlich im Internet statt. Niemand weiß, wann an den 70 Hochschulen im Land die gewohnten Präsenzveranstaltungen wieder aufgenommen werden können.
E-Learning-Pionier: Es kommt alles zu plötzlich
Michael Kerres zählt zu den E-Learning-Pionieren in Deutschland. Schon 1995 testete er die ersten offenen Kurse per Datenleitung. Obwohl in der Coronakrise nun sämtliche Hochschulen gerne solche Spezialisten an Bord hätten, ist Kerres nicht besonders glücklich mit der Situation. „Es kommt jetzt alles viel zu plötzlich. Die Lehrenden und Studierenden sind weitgehend auf sich allein gestellt.“
Lernmaterial aufzubereiten und ins Netz zu stellen sei dabei nicht die größte Herausforderung, sagt Kerres. „Das machen wir über die Lernplattform Moodle seit vielen Jahren.“ Problematischer sind Formate, an denen zeitgleich viele Personen teilnehmen sollen. Dabei gebe es nicht nur technische Hürden zu überwinden: „Manche Kollegen haben noch nie eine Videokonferenz gemacht. Es braucht Zeit, solche Medien zu beherrschen und gut zu nutzen“, weiß der Professor für Mediendidaktik und Wissensmanagement.
Sommer als Experimentiersemester
Zumal einige Professoren von der digitalen Lehre grundsätzlich nicht überzeugt sind. „Das ist eine ganz andere Kultur. Da kann man nicht einfach den Schalter umlegen und plötzlich läuft alles im Netz“, sagt Kerres. Dieses Semester müsse man schlicht als Experimentiersemester werten.
Das gilt für alle Hochschulen in NRW. Die TU Dortmund überträgt Vorlesungen für rund 1000 Studierende live in die Studierzimmer. An der Uni Münster wird eine neue Software eingeführt, um Videokonferenzen mit vielen Teilnehmern zu ermöglichen. Vor allem die Erstsemester haben es schwer, daher startete die Uni Köln eine spezielle Website mit allen Fragen rund um den Studienbeginn. Die Uni Aachen nimmt Vorlesungen im Fernsehstudio auf dem Campus auf.
Nicht alles geht digital
Doch nicht alles funktioniert digital: Für wissenschaftliche Exkursionen gibt es keine Alternativen, für Pflichtpraktika in den Laboren müssen ebenfalls Lösungen gefunden werden. Die TU Dortmund hat bereits etwa 200 physikalische Versuche digitalisiert, dies sei aber nicht in allen Bereichen möglich, erklärt Uni-Sprecher Martin Rothenberg. „In einigen Wochen wollen wir soweit sein, dass einzelne Mitarbeiter wieder in die Labore und an die Maschinen gehen können.“
Auch für Prüfungen müssen neue Formate und Regeln definiert werden. Hunderte Klausuren mussten bereits verschoben werden, denn derzeit gebe es noch keine „rechtssichere Möglichkeit“, Klausuren oder Prüfungen online abzunehmen, teilt die Uni Duisburg-Essen mit. Wann und in welcher Form Prüfungen nachgeholt werden können, sei derzeit offen.
Mit dem Laptop unter den Schreibtisch
Dass unter Termindruck und mit etwas Fantasie durchaus mündliche Prüfungen per Videoschalte abgenommen werden können, zeigten bereits einige Beispiele der letzten Wochen. „Da musste der Kandidat seinen Ausweis zeigen und die Laptop-Kamera unter den Schreibtisch halten, damit alle sehen konnten, dass da keiner sitzt und vorsagt“, erzählt ein Hochschulangehöriger.
Land gibt 20 Millionen "Corona-Soforthilfe"
Fantasie, Engagement und auch Geduld sind in diesen Tagen gefragt. Und Geld. Wie die Uni Duisburg-Essen stocken derzeit alle Hochschulen ihre IT-Ausstattung auf. Zwar sehen sich nach einer Umfrage des Stifterverbands gut 90 Prozent der deutschen Hochschulen digital gut vorbereitet, doch wünschen sie sich dringend mehr finanzielle Unterstützung für den Ausbau der IT-Infrastruktur und Ausstattung.
Das NRW-Wissenschaftsministerium reagierte auf die Krisensituation und stellte den Hochschulen eine „Corona-Soforthilfe“ von 20 Millionen Euro zur Verfügung, etwa für Geräte oder Softwarelizenzen.
Experte: Abwarten, was sich bewähren wird
Ob das erste digitale Semester die Hochschulen grundlegend verändern wird, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die nun unter hohem Zeitdruck vorangetriebene Aufrüstung wird der digitalen Lehre einen Schub verleihen, glauben Experten. „Man wird am Ende sehen, was gut funktioniert und was nicht“, sagt Kerres. Er meint: „Wir werden uns freuen, wenn wir wieder in die Hörsäle dürfen.“
>>>> Digitale Lernstrategien
Prof. Michael Kerres stellt seine Veranstaltungsreihe zu Strategien des digitalen Lernens ab sofort unter www.mediendidaktik.info für alle Interessierten kostenfrei ins Netz. 300 Teilnehmer können sich jeweils mittwochs zuschalten.
In den „Open Lectures“ geht es um das digitale Lernen in der Coronakrise. Zu Wort kommen Fachleute aus Schule, Hochschule und Weiterbildung.