Essen. . Landesweit werden 35 Talentschulen in schwierigen Stadtteilen besonders gefördert. Die Mehrheit der ausgewählten Schulen liegt im Ruhrgebiet.

Die Aufregung war groß. Schon vor dem Unterricht bestürmten die Schüler ihren Lehrer: „Herr Bruns, sind wir Talentschule?“ Er wisse es noch nicht, gab der Schulleiter lachend zurück. Einige Stunden später war klar: die Anne-Frank-Gesamtschule in Dortmund gehört zu den 35 Talentschulen in NRW, die von einer unabhängigen Jury in der ersten Runde des Wettbewerbs ausgewählt wurden. „Wir freuen uns riesig, das gibt der Schule einen gewaltigen Schub nach vorne“, sagt Bernd Bruns unserer Redaktion. Und mit den zusätzlichen zehn bis zwölf Lehrerstellen könne man endlich dem Anspruch näher kommen, jeden Schüler individuell zu fördern.

Die Gesamtschule liegt in der Dortmunder Nordstadt – ein Stadtteil, den man offiziell als einen „mit besonderem Erneuerungsbedarf“ bezeichnet, den man aber getrost „sozialen Brennpunkt“ nennen kann. Viele Familien erhalten Sozialhilfe, die Arbeitslosenquote ist hoch, die Kriminalitätsrate auch unter Jugendlichen höher als im Rest der Stadt. Es gibt verwahrloste Gebäude und Straßenzüge.

NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) verspricht sich von den Talentschulen mehr Chancengerechtigkeit.
NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) verspricht sich von den Talentschulen mehr Chancengerechtigkeit. © dpa

Damit steht die Dortmunder Gesamtschule beispielhaft für die Schulen, auf die der Wettbewerb zugeschnitten ist: Engagierte Kollegien, die in schwierigen Stadtvierteln mit großen Herausforderungen kämpfen und mit besonderen Konzepten ihre Schüler fördern. Durch zusätzliche Stellen und Gelder sollen die ausgewählten Talentschulen die Erfolge und Leistungen ihrer Schüler messbar steigern und auch positiv auf das Stadtquartier ausstrahlen.

Start zum kommenden Schuljahr

In der ersten Auswahlrunde wurden 35 Schulen benannt, im nächsten Schuljahr sollen weitere 25 Schulen an dem Schulversuch teilnehmen. Kriterien waren neben den sozialen Kennziffern der Schule vor allem Konzepte für Lehrer-Fortbildungen, Elternarbeit oder die Vernetzung mit außerschulischen Partnern. Die meisten Talentschulen entschieden sich zudem für ein besonderes Schwerpunkt-Profil wie Kultur oder eine mathematisch-naturwissenschaftliche Ausrichtung. Sie werden zum kommenden Schuljahr 2019/20 an den Start gehen und mit der Umsetzung des Schulversuchs beginnen.

„Für uns ist die Entscheidung der Jury auch ein Zeichen der Wertschätzung unserer Arbeit“, strahlt Bruns. „Und die Schüler sind stolz darauf.“ Überzeugt hatte die Anne-Frank-Gesamtschule die Jury mit ihrem kulturellen Bildungs- und Integrationskonzept. Andernorts ist der Katzenjammer indes groß.

Große Enttäuschung in Oberhausen

Landesweit hatten sich 149 Schulen bei dem von der schwarz-gelben Landesregierung gestarteten Wettbewerb beworben – insgesamt 77 allein aus dem Ruhrgebiet. Zwar liegen mit 23 Schulen deutlich mehr als die Hälfte der ausgewählten Talentschulen in Städten des Ruhrgebiets, doch viele Bewerber gingen leer aus. „Verdient hätten es eigentlich alle Schulen im Essener Norden“, sagt Lukas Rüenauver, Schulleiter der Gustav-Heinemann-Gesamtschule in Essen, die sich nun ebenfalls Talentschule nennen darf.

So war zum Beispiel die Enttäuschung in Oberhausen groß, wo keine der fünf Bewerberschulen den Zuschlag erhielt. „Ich brauche die zusätzlichen Stellen, um unsere Schüler angemessen fördern zu können“, hatte Gregor Weibels-Balthaus, Leiter der Gesamtschule Osterfeld, vor dem Wettbewerb unserer Zeitung gesagt. Jetzt sagt er: „Warum Oberhausen als insgesamt sehr arme Kommune überhaupt nicht berücksichtigt wurde, kann ich nicht verstehen.“

Kritik von den Bildungsgewerkschaften

Dass der Wettbewerb nur einige Schulen heraushebt, andere aber, die in ähnlicher Lage ebenfalls gute Arbeit leisten, keine Unterstützung erhalten, leuchtet vielen Schulleitern, Eltern und Schülern nicht ein. Scharfe Kritik kommt daher vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in NRW: „99 Prozent aller Schulen profitieren nicht“, erklärt VBE-Landesvorsitzender Stefan Behlau. „Einzelne Leuchttürme zu fördern schafft keine Chancengleichheit.“ Unverständlich sei auch, dass Grundschulen von dem Wettbewerb ausgeschlossen sind.

Die Bildungsgewerkschaft GEW kritisiert: Es bleibe „ein Rätsel der Landesregierung“, wie das Talentschul-Projekt den fatalen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg beenden könne. Die Gewerkschaften erinnern die Landesregierung an ihr Versprechen, alle Schulen in sozialen Brennpunkten besser zu fördern.

Darauf ging NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) am Freitag ein. Ihr Ministerium arbeite an einem „schulscharfen Sozialindex“, kündigte sie an. So könnten Schulen in Brennpunkten grundsätzlich besser ausgestattet werden als etwa Gymnasien in gutsituierten Vororten. Vorbild sei hier Hamburg, das so verfährt. Zur Zeit werden nur landesweit knapp 2800 Lehrerstellen nach einem Sozialindex verteilt.
(mit unseren Lokalredaktionen)