Die Hilferufe von Missbrauchsopfern werden selten gehört, sagen Experten. Schulen, Jugendämter, Justiz gingen nicht engagiert gegen Täter vor.

Düsseldorf. Unter dem Eindruck der Kindesmissbrauchsfälle von Lügde und Bergisch-Gladbach übten Experten im NRW-Landtag Kritik an den heutigen Hilfsangeboten für kindliche Opfer sexueller Gewalt. Schule, Jugendämter und andere Behörden „versagten“ häufig und neigten zum „Pfuschen und Vertuschen“, sagte Ursula Enders, Chefin der Kölner Beratungsstelle „Zartbitter“, im Landtags-Untersuchungsausschuss, der sich mit der Aufarbeitung der Fälle in Lügde beschäftigt. Sie forderte eine unabhängige Beschwerdestelle für NRW, an die sich Opfer vertrauensvoll wenden können und die auch Zeugen vorladen kann. Viele Missbrauchsfälle würden zum Beispiel in Schulen entweder übersehen oder von Dienstvorgesetzten untersucht, die selbst dem System Schule angehören. Den Opfern fehle das Vertrauen in die Hilfsangebote.

Der Bundestag hatte Ermittlern am Freitag mehr Möglichkeiten gegeben, gegen Kindesmissbrauch und -pornografie vorzugehen.

Ihre Geschichten sind voller Leid und zutiefst verstörend: Fast 2000 Opfer hat die Unabhängige Aufarbeitungskommission des Bundes zum Kindesmissbrauch (UAK) in den vergangenen vier Jahren angehört. Immer wieder berichten Betroffene davon, dass niemand ihre lauten Hilferufe gehört habe. „Sie erzählen von der Lehrerin, die zugehört, aber nichts unternommen hat. Vom Diakon, der dem Kind rät: ,Frage dich selbst, was du falsch gemacht hast’“, sagte UAK-Experte Prof. Heiner Keupp am Freitag im Untersuchungsausschuss „Kindesmissbrauch“, der nach den Fällen von Lügde eingesetzt worden war.

Professor: Opfer erfahren immer noch zu wenig Anerkennung

Der Sozialpsychologe, der sich unter anderem mit den bundesweit bekannt gewordenen Verbrechen im Berliner Canisius-Kolleg und an der Odenwald-Schule in Hessen beschäftigt hat, ist davon überzeugt, dass das Leid der Missbrauchs-Opfer in Deutschland noch keine angemessene Anerkennung erfährt. Das österreichische Parlament habe vor zwei Jahren Hunderte Missbrauchs-Opfer, die in Heimen untergebracht waren, eingeladen und diesen Menschen aufmerksam zugehört. Laut Parlamentsbeschluss hätten diese Opfer eine monatliche Zusatzrente erhalten, um die Folgen der Missbrauchserfahrung für ihren Lebensweg zumindest etwas auszugleichen. Der bayerische Landtag habe eine vergleichbare Veranstaltung organisiert, NRW solle sich daran ein Beispiel nehmen, so Keupp.

Charismatische Typen, die Macht über Körper und Seele haben wollen

Keupp erzählt von überforderten, personell schwach ausgestatteten Jugendämtern, deren Mitarbeiter kaum auf das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen vorbereitet werden. Institutionen wie Schulen und Kirchen hätten oftmals nicht die Kraft, gegen die Täter in den eigenen Reihen vorzugehen. „Die Aufarbeitungskommission bräuchte das politische Mandat, in Institutionen einzugreifen, die das selbst nicht schaffen“, sagte der Professor. 80 Prozent der Menschen, die sich der Kommission anvertraut haben, seien Frauen, 80 Prozent älter als 40, jeder Vierte sei in einer Schule missbraucht worden, viele in Kirchengemeinden oder Sportvereinen.

Die Täter sind Keupp zufolge oft „sehr bewunderte, charismatische Figuren“, die manchen Jugendlichen wie „idealisierte Väter“ erscheinen. Unkontrollierte Macht über Menschen begünstige den Missbrauch. Es seien Typen, die in der Familie, im Verein, in Jugendgruppen „Macht über Körper und Seele“ beanspruchten. Ursula vermutet, dass die „Macho-Struktur“ auf manchen Campingplätzen Gefahren auch für Kinder bedeute. Auf jeden Fall komme einer dieser dominanten Täter nie allein. „Er hat die Solidarität am Stammtisch“.

„Es ist nicht schwer, die Opfer zu erkennen.“

Ursula Enders, Leiterin der Beratungsstelle „Zartbitter“ sagt, Schulen und Jugendämter „versagten“ häufig beim Thema sexuelle Gewalt an Kindern. Foto:
Ursula Enders, Leiterin der Beratungsstelle „Zartbitter“ sagt, Schulen und Jugendämter „versagten“ häufig beim Thema sexuelle Gewalt an Kindern. Foto: © FUNKE Foto Services | Felix Heyder

Es sei meist nicht schwer, Missbrauchs-Opfer zu erkennen, behauptet Ursula Enders, die Leiterin der Beratungsstelle „Zartbitter“ in Köln. „Fast alle betroffenen Kinder geben Hinweise darauf. Sie werden aber oft nicht verstanden.“ Oder Lehrern, Erziehern, Trainern, auch Juristen fehle der Mut, dem Verdacht engagiert nachzugehen. „Wir reden so oft von Prävention. Viel wichtiger ist die echte Hilfe für die Kinder und Jugendlichen“, so Enders.

Ihre Forderung Nummer eins ist eine unabhängige Ombudsstelle zu sexualisierter Gewalt, an die sich Opfer und Zeugen wenden können, die kein Vertrauen zu Jugendämter, Schulbehörden und anderen Einrichtungen haben. Das Netz aus Beratungsstellen, die sich wirklich mit dem Thema Missbrauch auskennen, sei in NRW viel zu dünn, kritisierte Enders. Spezialisten seien rar, Kenntnisse über Missbrauch spielten bei der Aus- und Weiterbildung von Pädagogen und Verwaltungskräften kaum eine Rolle. Die Öffentlichkeit sei inzwischen sensibler für die Gefahren durch sexuellen Missbrauch, „die Institutionen hinken noch hinterher“, erklärte Enders.

In NRW wird unter anderem eine Landes-Fachstelle eingerichtet, die sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche beschäftigt.