Bochum/Berlin. Behörden ignorieren Kriegstraumata von Geflüchteten, sagen Therapeuten, die selbst unter prekären Bedingungen arbeiten. Hilfe kommt aus Bochum.
Gesund schien er ja, der Mann aus Sri Lanka – allerdings nur auf den ersten Blick. „Der Asylantrag von einem unserer Klienten wurde abgelehnt, weil man ihm seine Foltergeschichte nicht glaubte“, erzählt Eike Leidgens, der als Therapeut bei der Medizinischen Flüchtlingshilfe in Bochum viele Schicksale von Geflüchteten aus erster Hand erfährt. Dabei hätte der Sri Lanker einfach sein Hemd hochheben müssen – „Narben von offensichtlicher Folter am Rücken“, sagt Leidgens.
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Das deutsche Asylsystem scheint wenig Interesse an solchen Hintergründen zu haben: Bei den medizinischen Untersuchungen von Geflüchteten werde fast ausschließlich auf Faktoren wie ansteckende Krankheiten geachtet, kritisiert die Bundesgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), in deren Regionalzentren Geflüchtete psychotherapeutische Betreuung erhalten. „Für die Feststellung psychischer Erkrankungen gibt es dagegen bundesweit kein systematisches Prozedere“, sagt BAfF-Psychologin Jenny Baron. Deutschland habe damit eine 2013 beschlossene EU-Richtlinie immer noch nicht umgesetzt, laut der auch psychisch erkrankte und traumatisierte Antragsteller bei der Aufnahme erkannt werden müssten. Die BAfF fordert deshalb einen besseren Schutz von Asylsuchenden mit psychischen Erkrankungen.
Sprachbarrieren als große Hürde
Dass Traumata im Asylprozess richtig erkannt werden ist das eine. Dass Betroffenen geholfen wird, ist das andere: In Metropolregionen wie dem Ruhrgebiet, wo sich die meisten Zentren des BAfF-Netzwerkes befinden, warten Geflüchtete im Durchschnitt neun Monate, manchmal sogar zwei Jahren auf einen Therapieplatz. Diese massive Versorgungslücke führt zu großen Rückständen bei der Integration, BAfF-Psychologin Jenny Baron. „Wer psychisch krank ist, den kostet es auch mehr Kraft, Deutsch zu lernen oder einer Arbeit nachzugehen.“
7,3 Monate für einen Therapieplatz
Wenn Asylsuchende keinen regulären Therapieplatz erhalten, können sie Hilfe bei den 41 regionalen Zentren der Arbeitsgemeinschaft Psychosoziale Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer finden, von denen es mit Dortmund, Hagen und Bochum auch drei im Ruhrgebiet gibt.
Nur können die dortigen Therapeuten den Bedarf nicht abdecken – obwohl sie insgesamt mehr als doppelt so viele Menschen betreuen wie vor der großen Flüchtlingsbewegung 2015. Nach eigenen Angaben mussten 2017 deshalb mindestens 7212 Asylsuchende mit psychischen Problemen an den Zentren abgewiesen werden. Die Wartezeit auf einen Therapieplatz liegt im Durchschnitt bei 7,3 Monaten.
Menschen, die bei den BAfF-Zentren therapiert werden, haben in der Regel keinen Platz bei niedergelassenen Therapeuten bekommen haben. Denn dort einen Termin zu bekommen, ist für Geflüchtete besonders schwer. „Es gibt viele Hürden für sie, um in der Regelversorgung Platz zu finden“, sagt der Bochumer Therapeut Eike Leidgens. „Das größte Problem sind die Sprachbarrieren in den Praxen.“ Ein Dolmetscher könnte helfen – aber die Kosten für einen Übersetzer beim Sozialamt oder Jobcenter zu beantragen, sei eine komplizierte und langwierige Angelegenheit. „Viele niedergelassene Ärzte und Therapeuten, die mit der Sprachbarriere überfordert sind, verweisen dann auf uns“, so Leidgens.
Therapeuten klagen über prekäre Arbeitsbedingungen
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Denn die Regionalzentren der BAfF wie die Medizinische Flüchtlingshilfe in Bochum können auf ein breites Netzwerk an Dolmetschern zugreifen. Nur müssen die Zentren trotz anhaltender Neuzuwanderung immer mehr Menschen abweisen, weil ihre Fördergelder gekürzt wurden. „Wir betreuen Menschen in prekären Situationen unter prekären Arbeitsbedingungen“, sagt Eike Leidgens von der Bochumer Flüchtlingshilfe, die rein von Fördergeldern und Spenden finanziert wird. Leidgens forderte eine Regelfinanzierung der Psychosozialen Zentren. So würden auch weniger Asylsuchende bei regulären und ohnehin oft ausgelasteten Praxen Plätze anfragen.
Knapp 525 Menschen wurden von den fünf Therapeuten und sechs Sozialarbeitern in Bochum 2019 im vergangenen Jahr betreut – telefonische Beratungen, Weitervermittlungen und Erstgespräche nicht mitgezählt. „In den Jahren davor waren es wesentlich mehr“, sagt Leidgens. Ein direkter Vergleich der Zahlen sei allerdings schwierig, weil die Behandlung von Folterüberlebenden und Kriegsgeflüchteten intensiver geworden sei.
Kurzbehandlungen für Arztpraxen
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Entlastung könnte das kürzlich gestartete Projekt „Improve MH“ geben, das von der Fakultät für Psychologie an der Ruhr-Uni Bochum koordiniert wird. Dort wird eine neue Kurzbehandlungsform für Hausärzte entwickelt, mit der sie den großen Therapiebedarf bei Geflüchteten abfedern sollen. „Ein Hausarzt kann Menschen mit Depressionen, Angst oder Stress eine erste Einordnung ihrer Symptome geben“, sagt Psychologie-Professorin und Projektleiterin Silvia Schneider.
Teil des Projekts ist auch ein Online-Erziehungstraining mit Videos und Aufgaben, das Eltern helfen soll, die mentale Gesundheit ihrer Kinder zu stabilisieren. „Das Aufwachsen mit psychisch belasteten Eltern ist ein großer Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Probleme bei Kindern“, so Silvia Schneider. Wie die Kurzinterventionen bei den Geflüchteten wirken, soll genau untersucht werden. 400 Familien werden teilnehmen, gefördert wird die Studie vom Bund mit 2,9 Millionen Euro bis 2024. Die Besonderheit: Das Programm ist speziell auf die Zielgruppe geflüchteter arabischsprachiger Familien ausgerichtet. Profitieren sollen am Ende aber auch andere: „Wir wollen ein Modell entwickeln, was man auch auf andere Gruppen übertragen kann.“
Kein Risikofaktor für die Gesellschaft
Projekte wie „Improve MH“ könnten helfen. Den größten Unterschied würde es nach Einschätzung des Bochumer Therapeuten Eike Leidgens allerdings machen mehr Geflüchteten ein stabileres Umfeld zu geben. „Dann bräuchten viele überhaupt gar keine Therapie.“ Schlimme Erfahrungen, die während der Flucht oder im Heimatland gemacht worden sind, seien in manchen Fällen zweitrangig – ein ungesicherter Aufenthaltsstatus oder eine unwürdige Unterbringung seien psychisch teils noch belastender. Kommen Traumata zur dauerhaften Unsicherheit dazu, habe das fatale Folgen – im schlimmsten Fall ein steigendes Suizidrisiko. Leidgens: „Betroffene sind kein Risikofaktor für die Gesellschaft – vielmehr für sich selbst.“