Bochum. Im Ruhrgebiet kommen viele Risikofaktoren für Einsamkeit zusammen, warnt Psychologin Susanne Bücker. Was dagegen helfen würde.

An Heiligabend oder Silvester allein zu sein, kann Menschen in mentale Krisen führen. Die Bochumer Einsamkeitsforscherin Susanne Bücker warnt im Interview: Einsamkeit birgt aber noch viel mehr gesundheitliche Risiken. Was kann die Politik gegen das wachsende Problem tun? Wen betrifft Einsamkeit überhaupt? Und kann sie schon per Log-In im sozialen Netzwerk bekämpft werden?

Frau Bücker, ab wann wird Einsamkeit zu einem Problem?

Zur Person

Susanne Bücker (27) lehrt und promoviert an der Ruhr-Universität Bochum zum Thema Einsamkeit. Ihr Lehrstuhl für psychologische Methodenlehre beschäftigt sich außerdem mit Themen wie Glücksforschung, Wohlbefinden und Persönlichkeitsentwicklung.

Susanne Bücker: Wir alle kennen Leute, die eher einsam sind. Wir alle haben Momente erlebt, in denen wir uns selbst einsam gefühlt haben. Erst wenn sie chronisch wird, ist Einsamkeit ein ernstes Problem. Und dabei ist Einsamkeit vielmehr, als nur isoliert zu sein; es ist ein subjektives Gefühl. Dieses Gefühl kann selbst ausgeprägt sein, wenn man mit anderen Menschen zusammenlebt und viele Freunde hat – gerade bei Menschen, die charakterlich eher zurückhaltend, besorgt und weniger emotional stabil sind.

Werden solche Charaktereigenschaften in unserer Ellenbogen-Gesellschaft kultiviert?

Die Forschung zeigt eher, dass Menschen in unserer individualisierten Gesellschaft weniger anfällig sind. Stärker betroffen sind Kulturen, in denen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl für den eigenen Selbstwert besonders wichtig ist. In individualistisch geprägten Gesellschaften, in denen wir unseren Selbstwert beispielsweise mehr aus der Anerkennung für die eigenen Leistungen herziehen – ist Einsamkeit im Vergleich weniger ausgeprägt.

Dennoch hat man den Eindruck, Einsamkeit entwickle sich auch in unserer Gesellschaft zu einer regelrechten Epidemie.

Ich würde davor warnen, in Panikmache zu verfallen. Über alle Altersgruppen hinweg sind zwischen fünf und 15 Prozent chronisch einsam – die Zahlen schwanken zwischen Studien. Einsamkeit betrifft also viele, aber nicht die Mehrheit. Ebenso müssen wir aufpassen, gerade älteren Menschen nicht voreilig einen Stempel aufzudrücken. Man sollte nicht alle alleinlebende Senioren gleich als einsam bezeichnen.

Tabuisiert wurde das Thema dennoch viel zu lange, oder?

Richtig – und dabei wurden besonders die gesundheitlichen Risiken von Einsamkeit unterschätzt, die sich ähnlich gravierend darstellen wie Folgen von Alkoholabhängigkeit oder starkem Übergewicht. Vielen Menschen ist klar, dass dauerhafte Einsamkeit zu mentalen Problemen führen kann. Aber Einsamkeit kann auch auf physiologischer Ebene Krankheiten befördern. Langzeitstudien zeigen: Wer in jungen Jahren lange einsam war, leidet später etwa mehr unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Für unsere Gesundheit ist soziale Teilhabe nicht weniger wichtig als ein Besuch im Fitnessstudio.

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Reicht es nicht einfach, sich bei sozialen Netzwerken anzumelden und die Einsamkeit von der Couch aus zu bekämpfen?

Tatsächlich kann das helfen, aber es kommt darauf an, wie ein soziales Netzwerk genutzt wird. Einsame Menschen tendieren dazu, alle ihre sozialen Aktivitäten ins Internet zu verlagern. Andere Menschen nutzen die Netzwerke dagegen zur Aufrechterhaltung bestehender oder zur Knüpfung neuer Kontakte. Sie haben das Ziel, die Online-Kontakte in die Offline-Welt zu übertragen. Bei einsamen Menschen ist das oft anders, weil sie oft schüchtern und zurückhaltend sind.

Im Ruhrgebiet leben besonders viele alte Menschen. Droht die Region eine Hochburg der Einsamkeit zu werden?

Einsamkeit betrifft uns alle, in allen Altersschichten und Bevölkerungsgruppen. Natürlich ist das Alter auch ein fördernder Faktor, aber im Ruhrgebiet ballen sich noch viel mehr Risikofaktoren. Hier leben viele Menschen mit Migrationshintergrund – und diese haben eine höhere Anfälligkeit für Einsamkeit, weil sie häufig mehr Schwierigkeiten haben, in der Gesellschaft zu navigieren. Auch Menschen mit niedrigem Einkommen oder hohem Risiko für Arbeitslosigkeit sind anfälliger. Wer wenig Geld hat, kann nicht an allen sozialen Aktivitäten teilhaben.

Fühlen sich anderseits auch die Menschen ohne Migrationshintergrund in einer bunten Gesellschaft einsamer, weil die Gesellschaft plötzlich „fremd“ für sie wirkt?

Man spricht von kollektiver Einsamkeit – das Gefühl, sich fehl am Platz zu fühlen, in der Gesellschaft, in der man lebt. Von dieser Form der Einsamkeit berichten zum einen Migranten, die plötzlich in einer Gesellschaft mit anderen Normen und Strukturen leben, aber auch Deutsche, die glauben, dass sich die Gesellschaft zu sehr von ihnen weg bewegt hat. Parteien von rechts befördern die kollektive Einsamkeit, indem sie mit dem Gerede vom Fremdsein im eigenen Land Öl ins Feuer gießen. Das halte ich für höchst problematisch.

Welche politischen Strategien sollten gegen Einsamkeit entwickelt werden?

Es ist eine schwierige Frage, weil Einsamkeit hochgradig individuell ist. Hier kann man Betroffenen nicht per Gießkanne Hilfsprogramme aufdrücken. Deshalb gibt es bisher wenig gute Projekte dagegen, großflächig Einsamkeit zu bekämpfen. Klar aber ist, dass das Ehrenamt eine entscheidende Rolle spielt. Damit meine ich weniger ehrenamtliche Projekte gegen Einsamkeit, sondern direkte Teilhabe von einsamen Menschen am Ehrenamt. Einsame Menschen haben oft einen negativ verzerrten Wahrnehmungsfilter und viel Angst, abgewiesen zu werden. Wer sich ehrenamtlich engagiert, wird in der Regel willkommen geheißen und selten auf Ablehnung stoßen. Ehrenamtliches Engagement kann so auch ein erster Schritt raus aus der Einsamkeit sein.

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Es fehlt also an guten Projekten. Könnte die nicht ein Einsamkeitsbeauftragter entwickeln? Dieser wird immer mal wieder auf Bundesebene gefordert, zuletzt von der SPD.

Es ist keine schlechte Idee, einen solchen Posten einzuführen. In der Politik ist häufig das Problem dass die Einsamkeit keinem Ministerium zugeordnet wird – wie es beispielsweise in Großbritannien der Fall ist. In Deutschland fühlt sich mal das Familienministerium verantwortlich, mal das Gesundheitsministerium. Ein Einsamkeitsbeauftragter könnte als Schnittstelle zwischen den Ministerien alle Perspektiven zusammentragen.

Was sollte jeder einzelne, gerade jetzt an den Feiertagen, tun, um einsamen Menschen zu helfen?

Es wäre eine schöne Geste, unsere einsamen Menschen in die Feierlichkeiten mit einzubeziehen. Aber man sollte nicht zu ungeduldig mit ihnen sein. Bei einsamen Menschen kann es sehr lange dauern, bis sie ein Angebot zum gemeinsamen Treffen annehmen. Deswegen sollte man immer mal wieder freundlich nachfragen – und bloß nichts erzwingen