Hagen/Arnsberg. Experten fordern Kommunen auf, Maßnahmen gegen Alterseinsamkeit einzuleiten. Die Zahl der Einsamen wird steigen – vor allem auf dem Land.

Experten fordern Städte und Gemeinden auf, mehr Maßnahmen gegen die zunehmende Alterseinsamkeit einzuleiten. Die Zahl der Einsamen werde in Deutschland künftig deutlich steigen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 50er- und 60er Jahre das Rentenalter erreichen, sagte Karin Haist, Leiterin der Projekte demografische Zukunftschancen der Körber-Stiftung, dieser Zeitung. „Das Thema ist bisher völlig unterschätzt worden. Wir müssen es auf die nationale Agenda heben“, forderte Haist.

Befragungen zufolge leiden etwa acht Prozent der 65- bis 84-Jährigen unter Einsamkeit. Demnach sind etwa 1,2 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Tendenz steigend.

Immer weniger Orte der Begegnung auf dem Land

Vor allem der ländliche Raum sei von einer zunehmenden Vereinsamung bedroht, weil es dort mit dem Abbau der Infrastruktur immer weniger Orte der Begegnung gebe. „Das Thema gehört auf die Wahlplakate“, sagte auch der Arnsberger Regierungspräsident Hans-Josef Vogel dieser Zeitung. „Wir planen zu viel aus der Sicht von jungen Leuten für junge Leute.“ Vogel appellierte an die Städte, Strategien gegen die Vereinsamung zu entwickeln.

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„Soziale Einbindung kann nur direkt vor Ort stattfinden“, sagte Haist. Dafür sollten die Verwaltungen sensibilisiert werden. „Wir müssen mehr konsumfreie Räume schaffen, an denen sich die Menschen begegnen können.“ Damit sei es jedoch nicht getan: Einsamkeit und der demografische Wandel seien Querschnittsthemen; es gehe nicht nur um die Stadtplanung, sondern auch um den Wohnungsbau. „Wir haben zu viele Singles, die alleine in einem großen Haus wohnen. Wir brauchen mehr Senioren-WGs und Mehrgenerationenhäuser“, sagte Haist. „Alles, was die Einbindung in soziale Kontakte fördert, muss unterstützt werden.“

Einsamkeitsbeauftragte in den Kommunen

Haist befürwortete die Einrichtung von Einsamkeitsbeauftragen in den Kommunen. Noch besser sei es allerdings, wenn den älteren Menschen die Chance gegeben würde, „sich selbst zum Fürsprecher ihrer Angelegenheiten zu machen“.

Zwar sind die Maßnahmen mit Investitionen verbunden, langfristig sparen sie aber auch Geld: Wissenschaftliche Studien belegen, dass einsame Menschen weniger gesund sind, häufiger zu Demenz neigen und früher sowie länger pflegebedürftig sind.

Niemand möchte seinen Lebensabend in Einsamkeit bestreiten.
Niemand möchte seinen Lebensabend in Einsamkeit bestreiten. © dpa | Jens Kalaene

Vor Jahren sorgte ein Fall in Iserlohn für Schlagzeilen. Im Sommer des Jahres 2014 entdeckten Mitarbeiter des Ordnungsamts in einem Mehrfamilienhaus eine Leiche, die dort mehrere Wochen unentdeckt gelegen hatte. 19 Parteien wohnten in dem Gebäude, doch aufmerksam wurden die Menschen erst, als beißender Geruch durch das Treppenhaus zog. Der Mann habe sehr zurückgezogen gelebt, hieß es damals. Wir dürfen davon ausgehen, dass er sehr einsam war. Niemand hat ihn vermisst.

Gegen soziale Isolation im Alter

„Dass ein Toter wochenlang in der Wohnung liegt, das kommt ein oder zwei Mal im Jahr vor“, teilte das Iserlohner Ordnungsamt damals mit. Das ist ein Extrembeispiel, aber es steht fest: Immer mehr Menschen werden im Alter einsam. Weil es immer mehr ältere Menschen gibt. Weil sich immer mehr Paare scheiden lassen. Weil die Zahl der Single-Haushalte steigt. Weil die Kinder, wenn sie studiert haben, in die große, weite Welt ziehen. Weil auf dem Land die Geschäfte, die Kneipen und die Kirchen schließen. Weil ältere Menschen nicht mehr so mobil sind.

Jetzt kommen die Babyboomer in das Alter, in dem sie sich Gedanken über das Thema machen sollten, fordern Experten vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung sowie von der Körber-Stiftung. Sie haben in der vergangenen Woche ein Diskussionspapier erarbeitet, das den Titel tragt: „(Gem)einsame Stadt? Kommunen gegen soziale Isolation im Alter“.

Kommunen in der Verantwortung

„Den Städten und Gemeinden fällt bei diesem Thema eine besondere Verantwortung zu, denn vor Ort leben die Menschen schließlich“, sagt Karin Haist, Projektleiterin der Körber-Stiftung. Hans-Josef Vogel hat in seiner Zeit als Bürgermeister von Arnsberg zahlreiche Projekte auf den Weg gebracht und dafür auch den ein oder anderen Preis eingeheimst. Als Regierungspräsident kann er sich jetzt schlecht selbst loben, aber an andere Kommunen appellieren: „Wir brauchen mehr Möglichkeiten des Zusammenlebens. Die Kommunen müssen gemeinsam Strategien erarbeiten.“

Handlungsempfehlungen von Experten

So schwer ist das nicht, man muss es nur wollen. Und die Experten von Körber-Stiftung und Berlin-Institut haben schon ziemlich viele Handlungsempfehlungen parat:

  1. Die Bedeutung des Themas erkennen. Verwaltungen müssen sensibilisiert werden.
  2. Bürger, vor allem die Risikogruppe, befragen: Wie geht es euch? Was braucht ihr?
  3. Schon vorhandene Angebote publik machen und bündeln.
  4. Soziale Teilnahme ermöglichen. Engagementbörsen und Telefon-Hotlines für Ältere anbieten, politische Partizipation Älterer ermöglichen und ernst nehmen.
  5. Wohnen mit Anschluss ermöglichen: mehr kleinere Wohnung für Ältere in zentraler Lage, Gemeinschaftsräume in Neubauten einplanen, generationenübergreifendes Wohnen fördern, innovative Wohnformen erproben.
  6. Öffentliche Orte gestalten: Treffpunkte schaffen, multifunktionale Geschäfte einrichten, Begegnungsorte ohne Konsumzwang konzipieren, Mobilitätsangebote auf dem Land zur Verfügung stellen.
  7. Aktiv kommunizieren: Dort informieren, wo Ältere noch zu finden sind, zum Beispiel beim Arzt.
  8. Überlegen Sie doch mal selbst; Lösungen müssen dem Ort angepasst sein.

Arme Menschen sind übrigens deutlich öfter einsam als reiche, weil sie sich für viele gesellschaftliche Aktivitäten schlicht kein Geld haben. Könnte auch ein Argument für die Grundrente sein...