Gelsenkirchen. Statt unzähliger Konzepte für den Strukturwandel im Ruhrgebiet plädieren Forscher für eine gemeinsame Zukunftsvision: Mehr Lebensqualität.

Unzählige Vorschläge wurden in den vergangenen Jahrzehnten gesammelt, wie das Ruhrgebiet strahlend aus dem Strukturwandel hervorgehen könnte. Vernetzt soll es sein, eine Wissens- und Kulturregion, zudem grün, schuldenfrei und mit einem Nahverkehr aus „einem Guss“. Außerdem eine digitalisierte Dienstleistungsregion mit jungen und innovativen Firmen und Forschungseinrichtungen. Und nicht erst mit der Schließung der letzten Zeche lautete die Forderung, das Ruhrgebiet müsse sich „neu erfinden“. Mal wieder.

Aber wo geht es lang? Was ist der rote Faden des Strukturwandels? Welche Leitlinien geben Orientierung? Wissenschaftler des Instituts Arbeit und Technik (IAT) der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen machen einen Vorschlag: Sie definieren „gutes Leben“ als Kompass in Richtung Zukunft. Was bedeutet das?

Forscherteam des IAT:  Franz Flögel, Sebastian Merkel, Michaela Evans und Josef Hilbert.
Forscherteam des IAT: Franz Flögel, Sebastian Merkel, Michaela Evans und Josef Hilbert. © FUNKE Foto Services | Foto: Lars Fröhlich

Grundsätzlich geht es um Lebensqualität und Nachhaltigkeit, erklärt Prof. Josef Hilbert, Leiter des IAT. Produkte und Dienstleistungen in diesen Bereichen werden nach Einschätzung seines Forscherteams den Strukturwandel im Revier zunehmend prägen. Bildung und Wissen, Kultur, Gesundheit und Pflege sowie Energie sind bereits jetzt Zukunftsbranchen, die einen wesentlichen Beitrag zur Lebensqualität leisten, so Hilbert. „Über 770.000 und damit fast 45 Prozent der insgesamt 1,4 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind im Ruhrgebiet in diesen Bereichen tätig.“

Arbeit und Leben verknüpfen

Konkret sollten die hohen Kompetenzen des Ruhrgebiets im Gesundheitsbereich gebündelt oder vernetzt werden, sagt IAT-Wissenschaftlerin Michaela Evans. Zum Beispiel in der Rehabilitation. „Das Ruhrgebiet könnte zu einer Reha-Kompetenzregion werden.“ Gesundheitsexperte Sebastian Flögel ergänzt: „Wir müssen raus aus dem Branchendenken und sehen, was die Betriebe und die Arbeitnehmer brauchen, um gut zu arbeiten.“ Arbeit und Leben müssten besser verknüpft werden.

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Das heißt, man müsse zum Beispiel Kinderbetreuung, Pflegeangebote, Rehabilitation, Fahrdienste, Ämtergänge und andere soziale Dienstleistungen näher an die Betriebe bringen. Es gehe nicht um Produktion oder Dienstleistung, „wir müssen beides zusammenbringen“, so Evans. „Wir müssen stärker schauen, welchen Bedarf ein Unternehmen an sozialen Dienstleistungen hat, etwa Betriebskitas oder Pflegeangebote. Ein Handwerksmeister benötigt womöglich Hilfe bei der Pflege seiner Mutter, um seine Produktion zu sichern. Diese Probleme können nur beide Branchen gemeinsam lösen.“

Gutes Lebens als Zukunftswirtschaft

Das sei ist gemeint mit „gutes Leben als Zukunftswirtschaft“, sagt Hilbert: „Die Versorgungssicherheit der Menschen in allen Lebenslagen ist konkrete Wirtschaftsförderung.“ Hier könne das Ruhrgebiet eine Vorreiterrolle einnehmen.

zukunft im ruhrgebiet- revier muss in bildung investieren

Ein weiterer Ansatz für mehr Lebensqualität in den Städten sei die Rückkehr kleiner Manufakturen und Betriebe in die Zentren, ist IAT-Forscher Franz Flögel überzeugt. Experimentierräume wie offene Werkstätten, Repair-Cafés, urbane Landwirtschaft und kleine Unternehmen würden das städtische Leben bunter, moderner und lebenswerter machen. Städte sollten solche Initiativen zulassen und fördern.

Ein gutes Beispiel dafür sei das „Luther-Lab“ in der ehemaligen Lutherkirche in Bochum Langendreer, wo Bürger sich treffen, lokale Erzeugnisse produzieren, Kurse, Veranstaltungen und Ausstellungen organisieren. „Quartiersentwicklung muss nicht immer nur ein neues Einkaufszentrum bedeuten“, sagt Flögel. Es gebe viele leerstehende Ladenlokale im Ruhrgebiet. Man könnte sie für einen Neustart nutzen. So würden aus Problemen neue Chancen, ist Flögel überzeugt. Auch dies bedeute „gutes Leben“ im Ruhrgebiet.

>>>> Das Institut Arbeit und Technik

Das IAT wurde im Jahr 1988 als Teil des Wissenschaftszentrums NRW gegründet. Seit 2007 ist es eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen in Kooperation mit der Ruhr-Universität Bochum. Es hat seinen Sitz im Wissenschaftspark Gelsenkirchen.

Die Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen „Arbeit & Wandel“, „Gesundheitswirtschaft & Lebensqualität“, „Innovation, Raum & Kultur“ sowie „Raumkapital“. Das Institut versteht sich als eine Forschungs- und Entwicklungseinrichtung für nachhaltigen Wohlstand und Lebensqualität.