Bochum. . Wissenschaftler aus dem Ruhrgebiet stellen in Bochum die Zukunftsfragen der Region: Was folgt nach dem Strukturwandel?
Das Ruhrgebiet jammert auf hohem Niveau und pflege eine Lebenslüge. Mit diesem Vorwurf hatte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) eine breite Revier-Debatte ausgelöst. Das Revier verlasse sich lieber auf Hilfe von außen, statt aus eigener Kraft die Misere anzugehen. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender der Emschergenossenschaft, schlug gestern in Bochum in die gleiche Kerbe. „Wer kümmert sich im Ruhrgebiet um die Megathemen? Wer packt die wichtigen Bereiche an wie Mobilität, Digitalisierung, Klimawandel?“ Eine zukunftsfähige Landes- und Regionalplanung fehle, sagte Paetzel.
Diese harte Kritik an der Selbstgenügsamkeit des Reviers äußerte er ausgerechnet auf einem Kongress an der Bochumer Ruhr-Universität, bei der es um die Zukunft des Ruhrgebiets ging. „Was kommt nach dem Strukturwandel?“, lautete der Titel der Veranstaltung, zu der mehr als 200 Gäste aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, aus Verwaltungen, Stiftungen und Kommunalverbänden kamen.
„Wir kennen die Lösungen unserer Probleme“, so Paetzel weiter, „doch wir setzen sie nicht um. Uns fehlt der Mut.“ Beispiel Mobilität: „Warum schaffen wir nicht endlich einen Nahverkehr aus einem Guss?“ fragte er. Gleiches gelte für den Ausbau schneller Datennetze. „Und wir brauchen endlich einen Altschuldenfonds für die überschuldeten Revierkommunen. Wo bleibt er?“ Nein, das Ruhrgebiet könne nicht länger auf Hilfe von außen warten, sondern müsse die Megathemen“ endlich selbst anfassen. Als Beispiel, dass Großprojekte in der Region gelingen können, nannte er den Emscher-Umbau. „Hier ist der Beweis für die Wirksamkeit staatlichen Handelns“, so Paetzel.
„Das Ruhrgebiet braucht eine Bildungsoffensive“, sagte der Sozialwissenschaftler Jörg-Peter Schräpler. In der Region seien die Bildungschancen immer noch sehr ungleich verteilt, vor allem in den sozialen Brennpunkten seien die Chancen auf einen höheren Schulabschluss und eine gute Bildungskarriere deutlich geringer. „Wir müssen bedenken“, so Schräpler, „dass in diesen Vierteln ein Großteil der Kinder aufwächst.“ Diese soziale Ausgrenzung sei schlecht für die Jugendlichen und ein Nachteil für die gesamte Region. Vor diesem Hintergrund müsse „Ungleiches ungleich behandelt werden“, das bedeutet: eine besondere Förderung und Ausstattung für Schulen in Brennpunkten.
Mehr Kooperation nötig
Nach Auffassung von Rolf Heinze hat das Kirchturmdenken im Ruhrgebiet nicht nur Nachteile. Das Revier sei eine „polyzentrische“ Region, die mit ihren verschiedenen Quartieren unterschiedliche Schwerpunkte setzen kann. Nicht jede Stadt müsse das Gleiche machen und um die gleichen Investoren buhlen, sondern sich mehr auf Kernbereiche konzentrieren: Wohnen, Wissenschaft, Dienstleistung, Arbeit. Das bedeute aber nicht, dass Kooperationen überflüssig würden. Im Gegenteil sei eine stärke Zusammenarbeit nötig, wie etwa beim ÖPNV.
Der Arbeitsmarktexperte Franz Lehner sieht die Region angesichts der Digitalisierung vor riesigen Herausforderungen. Prognosen gehen davon aus, dass rund 30 Prozent der bisherigen Arbeitsplätze entfallen könnten – auch hochqualifizierte Tätigkeiten. „Das Ruhrgebiet kann hier nur bestehen, wenn es besonders innovativ ist“, so Lehner. Dazu sei eine starke regionale Wirtschaftsförderung nötig. Um die Stadtquartiere aufzuwerten, müsse massiv in hochwertige Wohnungen investiert werden. „Es hilft nicht, noch mehr billigen Wohnraum zu schaffen“, so Lehner. Das würde die soziale Trennung der Städte nur verschärfen. Man müsse im Gegenteil hochwertigen Wohnraum schaffen, um Qualifizierte anzuziehen. Das müsse aber „sozialverträglich“ geschehen.
Und der Chef der Wirtschaftsförderung Metropole Ruhr, Rasmus C. Beck, mahnte: „Wer zu lange in den Rückspiegel schaut, sieht nicht, was vor ihm liegt.“ Das Revier müsse mit der Vergangenheit brechen, so Beck. Nötig seien Investitionen in Bildung, Digitalisierung, Infrastruktur und neue Produkte. „Wir müssen schneller werden.“