Bochum. An der Ruhr-Uni werden geflüchtete Lehrkräfte fit gemacht für den Schuldienst. Zwei syrische Lehrer berichten, warum es eine große Chance ist.

Immer wieder schaut er nervös auf sein Smartphone. Es ist der Tag, an dem die türkische Militäroffensive gegen die Kurden im Norden Syriens beginnt. „Ich bin Kurde“, bekennt Abulhay Alhassan. „Ich stamme aus der Gegend“, sagt der 35-Jährige. Auch seine Kollegin Rahaf Aleissa Alkhalaf (35) schaut besorgt. „Ich komme aus Aleppo, das liegt im Nordwesten des Landes. Ich habe viele Freunde und Verwandte in dem Gebiet, in dem jetzt wieder Krieg herrscht“, erzählt sie.

Beide kamen Ende 2015 mit der großen Flüchtlingsbewegung nach Deutschland. „Am 15. September 2015 habe ich mich in Bochum angemeldet“, sagt Alhassan. Das Datum wird er wohl nie vergessen. Er machte sich zu Fuß über die Balkanroute auf den Weg, erreichte nach 23 Tagen die deutsche Grenze.

Unterricht während der Kämpfe

Rahaf Aleissa Alkhalaf lebt jetzt in Waltrop, in der Nähe ihres Bruders. „Meine Schule in Aleppo wurde beschossen“, sagt sie. Immer wieder fielen Bomben, gab es Granateinschläge. Die Stadt wurde teilweise komplett zerstört. „Wir sollten die Kinder beruhigen und trösten, aber wir Lehrer hatten ja selbst Angst“, erzählt die schmale Frau.

Alkhalaf und Alhassan unterrichteten Englisch in ihrer Heimat Syrien. Nun suchen sie eine Möglichkeit, auch in Deutschland ihren Beruf ausüben zu können. Die Chance auf einen Neubeginn bietet ihnen die Ruhr-Uni Bochum. Die beiden syrischen Lehrer sind zwei von insgesamt 25 Teilnehmern eines Pilotprojekts in NRW, das bundesweit Modellcharakter hat: Das Programm „Lehrkräfte plus“ wurde nach dem Bielefelder Vorbild 2018 in Bochum gestartet. Es richtet sich an Flüchtlinge, die sehr gut Deutsch sprechen und in ihrer Heimat als Lehrkräfte gearbeitet haben.

Dr. Marie Vanderbeke leitet das Programm „Lehrkräfte Plus
Dr. Marie Vanderbeke leitet das Programm „Lehrkräfte Plus" an der Professional School of Education der Ruhr Universität Bochum. © FUNKE Foto Services | Foto: Ulrich Hufnagel

Das Projekt verfolgt mehrere Ziele: Zum einen erhalten die geflüchteten Lehrer eine Berufsperspektive, zudem können die Absolventen den großen Mangel an Lehrkräften in NRW etwas mildern. Doch womöglich noch wichtiger ist, dass sie den Flüchtlingskindern, die Schulen vor große Herausforderungen stellen, ein Vorbild sein können. Sie sind authentische Ansprechpartner und können die Kinder mit ihren Problemen leichter „abholen“.

Die Anforderungen sind hoch

Nach einer einjährigen Vorbereitungsphase und intensiven Schulungen können die Absolventen als Vertretungslehrer an Haupt-, Real-, Sekundar- und Gesamtschulen arbeiten. Die Anforderungen sind hoch: Die Bewerber müssen einen Lehramtsabschluss in einem der Mangelfächer in NRW vorweisen können, das sind Englisch, Französisch, Mathematik, Chemie, Physik und Sport. Außerdem werden mindestens zwei Jahre Berufserfahrung vorausgesetzt sowie eine „günstige Bleibeperspektive“.

Das Programm hat ein enormes Echo ausgelöst, erzählt Projektleiterin Marie Vanderbeke von der Professional School of Education der Ruhr-Uni. „Wir hatten 470 Bewerber für 25 Plätze.“ Die meisten stammen aus Syrien, ein wachsender Anteil kommt aus der Türkei, andere aus dem Irak, Iran, Afghanistan und der Ost-Ukraine. Im letzten Jahrgang haben 24 geflüchtete Lehrer die Fortbildung in Bochum erfolgreich abgeschlossen.

Für die Schulen eine Bereicherung

„Für die Schulen sind unsere Teilnehmer eine enorme Bereicherung“, sagt Vanderbeke. „Zuletzt haben 22 eine befristete Anstellung im Schuldienst bekommen.“ Insgesamt 75 Teilnehmer werden nach der dreijährigen Laufzeit das Programm in Bochum absolviert haben, ebenso viele werden es in Bielefeld sein. Nach Ansicht Vanderbekes ist der Bedarf deutlich größer, das Angebot könnte daher deutlich ausgeweitet werden.

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Nach einem Jahr müssen die Teilnehmer Deutsch-Kenntnisse auf C1-Niveau erreicht haben, besser ist nur noch C2 – das Niveau von Muttersprachlern. Daneben erhalten sie eine fachdidaktische und pädagogische Qualifikation. Lernmethoden, Unterrichtsgestaltung, Kommunikation mit den Eltern, Digitalisierung, Inklusion, Mobbing und Rassismus stehen außerdem auf dem Stundenplan. Und nicht zuletzt: die Verästelungen des deutschen Schulsystems. Hinzu kommt ein halbjähriges Praktikum an einer Schule.

„Das Verhältnis zu den Schülern ist besser“

Rahaf Aleissa Alkhalaf absolviert gerade ihr Praktikum an einer Gesamtschule in Waltrop, Abdulhay Alkhassan an einer Realschule in Bochum. „Das Schulsystem in Deutschland ist komplizierter als in Syrien“, sagt die 35-Jährige. „Aber das Verhältnis zu den Schülern ist viel besser, freundlicher. Das gefällt mir.“

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Christopher Onkelbach
Von Christopher Onkelbach

Ihr Kollege nickt. „In Syrien wird viel Wert auf Autorität gelegt. Der Lehrer steht vorne und unterrichtet. Es muss viel auswendig gelernt werden, die Schüler pauken englische Grammatik, trotzdem können sie nach der Schulzeit die Sprache kaum sprechen.“ In Deutschland sei Kreativität gefragt, eigenständiges Denken, um Probleme selbstständig zu lösen. Es gebe mehr Freiheiten im Unterricht, finden beide. Aber diese Unruhe in den Klassen, das hätten sie nicht erwartet. „Das gab es in Syrien nicht und wurde bestraft.“

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Eine Zukunft in Deutschland

An eine Rückkehr in die Heimat denken die Geflüchteten nicht. „Ich möchte wieder als Lehrerin arbeiten“, sagt sie. „Meine ehemalige Schule in Aleppo liegt in Trümmern. Viele Kinder gehen nicht mehr zur Schule, weil es zu gefährlich ist.“ In Deutschland fühle sie sich inzwischen bereits mehr „als Bürgerin“ als in Syrien. „Dort hatten wir keine Möglichkeit, ein normales Leben zu führen.“

Alhassan sagt: „Ich kann schon wegen meiner zwei kleinen Kinder nicht zurück. Sie sind drei und fünf Jahre alt. Ich möchte ihnen eine sichere und gute Zukunft bieten.“ Diese Chance ergreifen zu können, dafür sei er dankbar.

>>>>Das Programm „Lehrkräfte plus“

2018 startete der erste Jahrgang von „Lehrkräfte plus“ in Bochum. Die Stiftung Mercator und die Bertelsmann Stiftung fördern das Programm mit insgesamt 470.000 Euro. Partner sind das NRW-Schulministerium sowie die landesweite Koordinierungsstelle für kommunale Integrationszentren. Die Förderung läuft bis März 2021.

Im Sommersemester 2020 startet der dritte Bochumer Jahrgang des Programms. Bewerbungen für die 25 Plätze sind bis 11. November möglich. Infos: http://www.pse.rub.de/