Essen. Die Grünen-Chefs Banaszak und Neubaur wollen NRW umkrempeln – aber mit wem? Bei der SPD fragen sie sich: Noch Politik oder schon Folklore?
Hält der aktuelle Höhenflug der Grünen an, dürfte sich die politische Landschaft in NRW spätestens nach den Kommunalwahlen im Herbst 2020 spürbar ändern. Wir sprachen mit den NRW-Landesvorsitzenden der Umweltpartei, Mona Neubaur und Felix Banaszak.
Die Grünen sind im Umfragehoch. Wie viele Oberbürgermeister wollen Sie 2020 im Ruhrgebiet stellen?
Banaszak: Es wäre vermessen, jetzt zum Sturm auf alle Rathäuser zu blasen. Wir werden im Ruhrgebiet grüne OB-Kandidaten sehen, aber die Lage ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Beispiel Bochum: Dort arbeitet Rot-Grün seit 20 Jahren erfolgreich. Es spricht viel dafür, Thomas Eiskirch von der SPD zu unterstützen. Dafür haben die Bochumer Grünen viele Inhalte durchgesetzt. In Dortmund ist es anders. Dort kann ich mir keine grüne Unterstützung für die SPD vorstellen. Über diese Fragen entscheiden aber die Grünen vor Ort. Unser Fokus liegt nicht auf Chefposten, sondern darauf, in den Räten so stark wie möglich zu werden. Wir wollen möglichst viel für Klimaschutz, die Verkehrswende und bezahlbare Wohnungen erreichen.
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Haben Sie das Personal für diese Räte?
Neubaur: Wir zählen heute mehr als 18.100 Mitglieder in NRW - 40 Prozent mehr als bei der Landtagswahl im Mai 2017. Im Ruhrgebiet ist der Zuwachs sogar überdurchschnittlich. Der Kreisverband mit dem prozentual zweitgrößten Mitgliederzuwachs nach Köln ist Bottrop – wahrlich keine grüne Hochburg. Viele Neumitglieder brennen darauf, Kommunalpolitik zu machen. Es gründen sich aktuell viele neue Ortsverbände.
Sie sind 2017 in NRW mit 6,4 Prozent krachend abgewählt worden und heute befinden sich die Grünen hier im Umfragehoch. Vergessen die Menschen so schnell? Oder profitieren Sie bloß von der Klimadebatte und dem Hype um Greta Thunberg?
Banaszak: Natürlich tragen uns die gesellschaftliche Dynamik und der gute Bundestrend. Aber es geht auch um Fragen des politischen Stils bei uns NRW-Grünen. Wir verstecken uns nicht nur in Sitzungen, sondern gehen als Unterwegspartei raus zu den Menschen und hören ihnen zu. Beispiel Bildung: Über ein Jahr lang sind wir von Schule zu Schule gereist - jetzt steht unser neues Programm. Das ist auch bitter nötig, denn die „weltbeste Bildung“, die die FDP und Schulministerin Yvonne Gebauer versprochen haben, ist nicht in Sicht. Viele Schulen sind weiterhin marode, es fehlen Lehrerinnen und Sozialarbeiter – vor allem in Grundschulen.
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Neubaur: Dass CDU und FDP im Auftrag von RWE den Hambacher Wald gegen den Willen der Bevölkerung und während der Verhandlungen der Kohlekommission räumen ließen, hat viele Menschen auf die Straße gebracht. Wichtig ist für uns aber auch konkrete Industriepolitik: Thyssenkrupp will in die CO2-freie Stahlproduktion einsteigen. Das zeigt doch, wie Industrie und Ökologie zusammengebracht werden können. Dafür braucht es eine klare Förder- und Investitionsstrategie. Landes- und Bundesregierung müssen sich jetzt darum kümmern. Anders als bei anderen bedeutet Fehlerkultur bei uns – inhaltlich und strukturell nach vorne zu gehen. Da sind wir auf einem guten Weg.
Wäre die SPD in NRW noch ein guter Partner für Sie?
Banaszak: Prinzipiell schon. Aber die SPD wirkt in ihrem Existenzkampf im Moment orientierungslos und verzweifelt. Da gibt sich ausgerechnet die NRW-SPD das Etikett „Rot pur“. Ich frage mich manchmal: Ist das noch Politik oder schon Folklore? Der SPD muss endlich klar werden, dass die ökologische Frage auch eine Gerechtigkeitsfrage ist. Sich neurotisch an der Agenda-Vergangenheit abzuarbeiten, ist noch kein Zukunftsprogramm.
Die Grünen haben doch die Hartz-Gesetze mit beschlossen. Müssten Sie nicht auch darüber streiten?
Banaszak: Wir Grüne sind längst auf Abstand zur Agenda. Das Hartz-IV-System ist nicht zukunftsfähig. Es ist ungerecht und bietet keine Antwort auf die Digitalisierung der Arbeitswelt und die zunehmende Verunsicherung der Beschäftigten.
Wie stehen die Grünen zur Olympia-Idee, die in NRW derzeit die Runde macht?
Neubaur: Ich nehme bei uns keine prinzipielle Verweigerungshaltung gegen eine Bewerbung der Rhein-Ruhr-Region für die Spiele 2032 wahr, keine „NOlympia“-Stimmung. Wir diskutieren darüber beim kleinen Parteitag Ende Oktober in Essen. Natürlich wirft eine mögliche Bewerbung sehr viele Fragen auf, zum Beispiel auch die nach finanziellen Zusagen des Bundes. Die war ja beim gescheiterten Hamburger Versuch nicht geklärt. Außerdem fordern wir eine ernsthafte Beteiligung der Bürger. Eins ist aber klar: Der dringend nötige Ausbau der (Sport-)Infrastruktur in NRW darf nicht davon abhängen, ob Olympia kommt.
Apropos Infrastruktur. Ob Straßen oder Schienen: Die Verkehrssysteme im Ruhrgebiet stecken im Dauerstau. Was hilft dagegen?
Neubaur: Das Ruhrgebiet hat die große Chance, Vorreiter einer nachhaltigen Mobilität zu werden. Die Verkehrsplanung muss endlich weg vom Blick durch die Windschutzscheibe des Autofahrers. Wir brauchen mehr Radwege und deutlich mehr ÖPNV. Ein Riesenpotenzial sehe ich zum Beispiel in der Reaktivierung stillgelegter Schienenstrecken. Davon gibt es eine ganze Menge, besonders auf den heute benachteiligten Nord-Süd-Achsen – etwa von Recklinghausen nach Bochum.
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Es gibt 13 kommunale Verkehrsunternehmen in der Region. Braucht der ÖPNV im Ruhrgebiet eine neue Organisationsform?
Neubaur: Wir brauchen eine Verkehrsplanung aus einem Guss, die nicht mehr an den Stadtgrenzen endet, sondern die Region als Ganzes betrachtet. Doch dafür muss das Kirchturmdenken der 13 kommunalen Nahverkehrsunternehmen aufhören. Es kann doch nicht sein, dass man mit öffentlichen Verkehrsmitteln leichter von Essen nach Brüssel kommt, als nach Dinslaken-Lohberg. NRW-Verkehrsminister Hendrik Wüst ist hier gefragt. Er muss die Beteiligten im Zweifel zum Jagen tragen. Ziel muss aus meiner Sicht die Gründung einer einheitlichen Verkehrsgesellschaft für das gesamte Ruhrgebiet sein.
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Die radikalen Klima-Aktivisten von „Extinction Rebellion“ haben zuletzt zentrale Plätze in Berlin besetzt. Die Gruppe ist auch im Ruhrgebiet aktiv, es könnte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie hier zu großen Aktionen aufruft. Haben Sie Verständnis für diese Form des Protests?
Banaszak: Zu einer Demokratie gehört eine aktive Zivilgesellschaft. Wir unterstützen auch weiterhin die gewaltfreien Proteste der Klimabewegung – von Fridays for Future bis zu den Umweltverbänden. Protest kann aber die Probleme nicht lösen. Dafür ist die Politik verantwortlich. Wenn – wie bei „Extinction Rebellion“ - die demokratischen Aushandlungsprozesse als solche infrage gestellt werden, lehnen wir das ab.
Ihre Bundespartei hat jüngst einen Maßnahmenplan mit „radikal-realistischen“ Forderungen vorgelegt. Was wäre Ihre erste „radikal-realistische“ Forderung für NRW?
Neubaur: Bei den Altschulden muss NRW endlich Schluss machen mit dem Schwarze-Peter-Spiel. Statt nur auf den Bund zu verweisen, muss NRW selbst aktiv werden, um den überschuldeten Kommunen zu helfen. Es braucht eine Investitionsoffensive für alle Städte und Dörfer. Bund und Land müssen sich um Klimaschutz, schnelles Internet sowie einen bezahlbaren und bequemen öffentlichen Nahverkehr kümmern.