Essen. Kliniken vernetzten sich im Kampf gegen Krebs. Welche Innovationen werden aus NRW kommen? Der Essener Netzwerker Dr. Martin Schuler im Gespräch.

Keine Alleingänge mehr: Essen und Köln sollen die Dirigenten in einem landesweiten Zusammenschluss für die Krebsmedizin werden. Aber welche Innovationen sollen durch das „Exzellenznetzwerk“ vorangebracht werden? Prof. Dr. Martin Schuler, Netzwerker und Vize-Direktor des Westdeutschen Tumorzentrums am Uniklinikum Essen, im Interview über die Zukunft der Krebsmedizin - und was NRW dazu beiträgt.

2018 gab es den Medizin-Nobelpreis für die Entdeckung, Immunreaktionen gegen Krebszellen wachrufen zu können. Wann wird der Nobelpreis nach Essen kommen?

Martin Schuler: (lacht) Sehen Sie, den Nobelpreis 2018 gab es für eine Grundlagenforschung, deren Umsetzung in die Praxis viele Jahre gedauert hat. Das Ergebnis ist aber ähnlich revolutionär wie die Chemotherapie. Es geht um eine indirekte Immuntherapie, die Sie sich vorstellen können, wie einen indirekten Freistoß im Fußball. Man schießt nicht ins Tor, sondern flankt den Ball ins Feld – und dort soll das Immunsystem den Ball reinmachen. Das Prinzip wirkt bei ganz vielen Tumorarten sehr gut und nachhaltig. Bei einem Teil der Patienten allerdings schlägt die Behandlung nicht an. Herauszufinden, warum das so ist, ist ein großer Schwerpunkt bei uns im Westdeutschen Tumorzentrum.

Prof. Dr. Martin Schuler ist Direktor der Klinik für Innere Medizin und Vize-Direktor des Westdeutschen Tumorzentrums am Uniklinikum Essen.
Prof. Dr. Martin Schuler ist Direktor der Klinik für Innere Medizin und Vize-Direktor des Westdeutschen Tumorzentrums am Uniklinikum Essen. © FFS | Volker Hartmann

Es wird also künftig immer mehr darum gehen, den Krebs nicht direkt anzugreifen, sondern körpereigene Abläufe für die Behandlung zu aktivieren?

Das ist eine wichtige Strategie. Aber es gibt auch eine zweite große Richtung, die viel Potenzial für die Zukunft birgt: die zielgerichtete, molekulare Behandlung. Diese verfolgt das Prinzip des direkten Angriffs. Dabei macht man eine Genuntersuchung im Tumorgewebe, die dann die Achillesferse von einem Tumor zeigen kann. Wenn man diese mit Medikamenten trifft, sterben die Tumorzellen ab.

Wenn jemand an einem häufigen Krebs erkrankt und zur Behandlung zu Ihnen kommt: Finden heutzutage in der Regel beide Behandlungsmethoden Einsatz?

Beim Lungenkrebs sind beispielsweise beide Behandlungsformen Standard. Wir untersuchen bei allen Patienten mit fortgeschrittenem Krebs strategisch relevante Genabschnitte. Bei 30 Prozent der Fälle findet man Genveränderungen, die zeigen, dass eine Tablette wirken kann, die einen Tumor direkt angreift. Bei den anderen Patienten geben wir eine Immuntherapie mit einer Chemotherapie kombiniert. Bei einer dritten Gruppe von Patienten ist die Immuntherapie sogar so aussichtsreich, dass man sie ganz ohne Chemotherapie durchführen kann.

Die Unikliniken Köln und Essen haben das „Cancer Center Cologne Essen“ (CCCE) als krebsmedizinisches Spitzenzentrum zwischen Rhein und Ruhr aufgebaut. Warum ist die Netzwerkarbeit so wichtig?

Wir unterteilen den Krebs in immer mehr Untergruppen, es wird immer komplexer. Daraus ergeben sich Herausforderungen. Eine spezielle Tumorkonstellation ist so selten, dass man in einer Einrichtung, in der man Patienten mit seltenen Varianten nur ein- bis zweimal im Jahr behandelt, keine entsprechende Erfahrung aufbauen kann. Deswegen gibt es das CCCE. Hier werden Experten zusammengebracht, Forschung und Anwendung werden zusammengeführt und weiterentwickelt.

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Die Vernetzung soll nun in ganz NRW vorangebracht werden. Nur wird das schlecht funktionieren ohne die entsprechende digitale Infrastruktur.

Das ist richtig. Die IT-Systeme der Krankenhäuser müssen zusammengeführt werden, um Daten erfolgreich austauschen zu können. Es muss möglich sein, dass einem Patienten von Essen mit der Auswertung bestimmter komplizierter radiologischer Bilder geholfen werden kann, für die ein Experte zum Beispiel in Aachen sitzt.

Welche Rahmenbedingungen muss die Politik dafür schaffen?

Es bräuchte einen Datenschutz, der mehr vom Patienten her gedacht ist. In Deutschland haben wir leider besonders bei diesem Thema einen Hang zur gut gemeinten Bevormundung. Deshalb gibt es ganz komplizierte Regelungen. Da ist so viel Sand im Getriebe, dass es für die Patienten mittlerweile eine echte Gefahr darstellt. Denn für sie kann es Doppel- oder Dreifachuntersuchungen geben, weil sich Ärzte nicht auf modernem Wege austauschen können, oft gar nicht wissen können, welche Untersuchungen des Patienten andernorts schon erfolgt sind. Aktuell bekommen wir nicht mal elektronische Daten von Patienten, die in anderen Krankenhäusern in Essen behandelt werden. Ich würde mir wünschen, dass wir durch eine – natürlich die Kernanliegen des Datenschutzes wahrende – Vernetzung der Behandlungsdaten, einen viel größeren Pool an Behandlungsdaten aufbauen können, aus dem wir dann mittels moderner Analysetechnologien bessere Erkenntnisse gewinnen können.

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Klingt, als sei zumindest die NRW-Regierung auf dem richtigen Weg. Hier versucht das Gesundheitsministerium Deutschlands erstes „virtuelles Krankenhaus“ auf den Weg zu bringen.

Ja, auch mit der Umstrukturierung der Krankenhauslandschaft durch den neuen Krankenhausplan kann sich Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann nachhaltig verdientmachen. Im deutschen Gesundheitssystem wird viel diskutiert aus dem Blickwinkel von Interessensgruppen – Krankenhäuser, niedergelassene Fachärzte oder Reha-Kliniken. Es geht viel um Eigeninteressen, nicht um eine rationale Bedarfsorientierung. Wir haben deswegen doppelte Behandlungsstrukturen besonders in Ballungsräumen, dort überflüssige Konkurrenzsituationen und anderswo einen großen Mangel. Wir bräuchten aber Vorgaben wie in den Niederlanden, wo man nicht mal mehr 90 Krankenhäuser hat. Der Nordrheinwestfale wird nicht älter als der Niederländer, nur weil es hier mehr Kliniken gibt.

Und mit mehr Vernetzung, mehr Patientenorientierung und Zentralisierung werden wir den Krebs dann in 15 Jahren besiegt haben?

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Auch wenn es die eine Form von Krebs natürlich nicht gibt, bin ich dafür, sich große Ziele zu setzten und auch mal auszusprechen, dass man die Krankheit in 15 Jahren besiegen wird. Besonders in der Früherkennung und Prävention werden wir viel verändern können. Allerdings glaube ich ebenfalls, dass es im Menschen eingebaut ist, dass wir im hohen Alter Krebs bekommen. Entweder wir bekommen Demenz, Krebs oder beides. Insofern ist das reale Ziel, dass auch bei fortgeschrittenem Krebs ein lebenswertes Leben möglich ist. Krebs wird man irgendwann genauso mitnehmen wie etwa Bluthochdruck. Aber das erreicht man nur durch eine anwendungsbezogene Forschung direkt am Patienten. Wir sind in den letzten Jahren herausgekommen aus den Elfenbeintürmen der Modellforschung und setzten den Fokus mehr auf den Erkenntnisgewinn für die Betroffenen. Man kann optimistisch und dankbar sein, in so einer Zeit arbeiten zu dürfen.