Essen. Nur eine Minderheit nutzt die Chance auf staatliche Zuschüsse aus dem Teilhabepaket. Kritik an fehlenden Informationen und viel Bürokratie.
Im Ruhrgebiet sind die Chancen für Kinder aus einkommensschwachen Familien, staatliche Hilfe zu erhalten, extrem unterschiedlich verteilt. So profitieren zum Beispiel in Duisburg nur 9,6 Prozent der bedürftigen Schüler und Schülerinnen unter 15 Jahren von den Leistungen für Schulsachen und Freizeit. Dagegen sind es etwa in Hamm 93 Prozent (siehe Tabelle). Dies geht aus einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbands hervor, die am Dienstag vorgestellt wurde. In NRW liege der Anteil im Durchschnitt nur bei 15 Prozent. Das bedeute, dass 85 Prozent der Mädchen und Jungen mit Anspruch auf Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket leer ausgingen.
Aus Sicht des Sozialverbands ist das Regelwerk gescheitert, denn die Zahlen hätten sich im Jahresvergleich nicht verbessert und seien „niederschmetternd gering“. Christian Woltering, Landesgeschäftsführer des Paritätischen NRW, sieht in der großen Bürokratie und der unterschiedlichen Verwaltungspraxis die Ursachen für die unterschiedlichen Teilhabequoten. „Jede Kommune hat für sich ein Verfahren entwickelt, wie Leistungen beworben und beantragt werden.“
Als Grund für das positive Ergebnis führt man in Hamm die Einführung einer Scheckkarte für Kinder in Hartz IV an, über die Bildungspaketleistungen mit der Stadt abgerechnet werden können – die sogenannte „Youcard“. Darüber werden Mittagsverpflegung, Schulmaterial oder Klassenfahrten direkt abgerechnet. Einzelanträge werden damit überflüssig.
Abschreckende Bürokratie
Andere Städte würden für jede Leistung einen gesonderten Antrag verlangen. „Die Bürokratie hat viele Menschen abgeschreckt“, so Woltering. Das Bildungs- und Teilhabepaket war 2011 eingeführt worden und gewährt seit 1. August 15 Euro für Mitgliedsbeiträge sowie regelmäßige Unterstützung für Bücher, Schulessen oder Klassenausflüge.
Zu bürokratisch, zu kompliziert und komplett lebensfern – schon seit Jahren wird das Bildungs- und Teilhabepaket als weitgehend wirkungslos kritisiert. Die Regelung „ist und bleibt Murks und geht komplett an der Lebensrealität Heranwachsender und den Strukturen vor Ort vorbei“, kritisiert der Paritätische Wohlfahrtsverband. Einem Großteil der Kommunen gelinge es nicht, die Leistungen an das Kind oder den Jugendlichen zu bringen.
Viele Menschen sind nicht informiert
„Für jede einzelne Leistung, ob Schulessen oder Mitgliedschaft im Verein, mehrseitige Formulare auszufüllen, überfordert viele Menschen“, sagt Christian Woltering, Landesgeschäftsführer des Paritätischen NRW. Zudem wüssten viele Betroffene gar nicht, dass sie Leistungen beantragen könnten. Vorbild sei die Stadt Hamm mit einer Teilhabequote von knapp 93 Prozent. Am anderen Ende der Tabelle rangiert zum Beispiel die Stadt Hagen mit einer Teilhabequote von nur fünf Prozent.
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Im Hagener Rathaus kritisiert man, dass bei dem Paritätischen „Äpfel mit Birnen“ verglichen werden. Mit Blick auf Spitzenreiter Hamm merkt man in Hagen an, dass die Statistik erstellt werde, wenn die „Youcard“ herausgegeben werde – nicht wenn Leistungen abgerufen werden. Die Zahlen würden also wenig darüber aussuchen, welche Angebote am Ende tatsächlich bei anspruchsberechtigten Kindern ankämen. Über die dennoch geringe Zahl in Hagen sagte Stadtsprecher Michael Kaub: „Das Jobcenter bietet den Sozialhilfeempfängern die Leistungen standesgemäß an. Es ist dann sehr schwer nachzuvollziehen, warum manche Sozialhilfeempfänger gewisse Ansprüche nicht in Anspruch nehmen.“
Die Studie des Paritätischen bezieht sich auf den Zeitraum von August 2017 bis Juli 2018. Mit dem im Juni in Kraft gesetzten „Starke-Familien-Gesetz“ wurden die Hilfen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhöht. Für Schulmaterial gibt es nun pro Schuljahr 150 statt 100 Euro. Für Vereinsbeiträge zahlt der Staat nun statt 10 Euro 15 Euro im Monat. Ein Sprecher des Städte- und Gemeindebundes NRW bedauerte, dass die Studie noch nicht die Auswirkungen des Gesetzes abbilde: „Der Bund hat nicht nur die Mittel erhöht, sondern auch das Antragsverfahren vereinfacht. Das hilft mit Sicherheit allen.“ Das Beispiel Hamm zeige, „dass noch Luft nach oben ist“.
Weitere Sozialleistungen von Studie nicht berücksichtigt
Verena Göppert, stellvertretende Geschäftsführerin des Städtetages NRW, kritisierte: „Die Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes beleuchtet nur einen kleinen Teil der kulturellen und sozialen Förderung von Schulkindern“. Gerade in den Städten besucht ein Großteil der Schüler ganztägige Schul- und Hortangebote oder offene Angebote wie Jugendtreffs oder Familienbildungszentren. „Die Kinder und Jugendlichen werden dort gefördert und erhalten auch kostenlose Freizeitangebote“, betonte Göppert.
Die soziale und kulturelle Teilhabe werde häufig ganzheitlich für alle Kinder und Jugendlichen erbracht und nicht extra übers Bildungs- und Teilhabepaket abgerechnet. Diese Unschärfe der Studie räumt der Paritätische ein. Aus den Daten könne nicht abgelesen werden, ob Kinder auch andere vorrangige Leistungen erhielten.
Dennoch sieht sich der Sozialverband in seiner Kritik durch die weiterhin niedrige Teilhabequote bestätigt. Nötig wäre „Rechtsanspruch auf Bildungs- und Teilhabeleistungen“, sagt Christian Woltering vom Paritätischen NRW. Dadurch würden die Kommunen gezwungen, jedem Kind ermöglichen, Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote zu nutzen. Auch er begrüßt die Verbesserungen durch das „Starke-Familien-Gesetz“. Dadurch hätten die Kommunen die Möglichkeit, Anträge gesammelt zu bearbeiten. „Ob sie das auch umsetzen, muss man sehen“, bleibt Woltering skeptisch.