Düsseldorf. Zwei Jahre auf Bewährung lautet das erste Urteil im Fall Lügde. Die NRW-Regierung und der Kinderschutzbund halten das für ein fatales Signal.

Nach dem ersten Urteil zu den Missbrauchsfällen von Lüdge wird in NRW Kritik laut an dem von vielen Bürgern als mild empfundenen Strafmaß. NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) sagte, er wolle keine Gerichtsschelte betreiben, aber das Strafrecht müsse seiner Einschätzung nach dringend verschärft werden. Das Landgericht Detmold hatte einen 49-Jährigen aus Niedersachsen zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Staatsanwaltschaft Detmold hat am Donnerstag Antrag auf Revision gestellt.

„Es kann nicht sein, dass solche Vergehen, die ein Leben zerstören, zu einer Bewährungsstrafe führen. Das ist das falsche Signal in die Täter-Milieus hinein. Wir müssen das Sexualstrafrecht verschärfen und anpassen“, sagte Stamp am Donnerstag bei der Vorstellung einer Ideensammlung für den besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch. NRW werde sich im Bund für Strafrechtsverschärfungen einsetzen und dringe auf eine Überprüfung der Regeln, die zu einer Pflegeerlaubnis führen. Kinder dürften nicht – wie in Lügde – zu Pflegepersonen auf einem Campingplatz vermittelt werden. „Das war von jeher unfassbar“, so Stamp.

Angeklagter verließ das Gericht als freier Mann

Der verurteilte Mann aus Stade hatte vor mehr als acht Jahren in vier Fällen den sexuellen Missbrauch eines Kindes per Webcam beobachtet und einen Mitangeklagten angestiftet. Nach siebenmonatiger Untersuchungshaft durfte der Berufskraftfahrer das Gericht als freier Mann verlassen, muss aber eine Therapie machen und dem Opfer – einer heute 19-Jährigen – 3000 Euro zahlen.

Auch der Deutsche Kinderschutzbund kritisierte das erste Urteil im Missbrauchsfall Lügde. Krista Körbes, Landesgeschäftsführerin des Kinderschutzbundes, verzichtete wie Familienminister Stamp auf eine juristische Bewertung der Gerichtsentscheidung. Sie sagte aber, es stelle „sich die Frage, wie das Urteil auf andere Täterinnen und Täter wirkt, die kinderpornografisches Material besitzen oder zu sexueller Gewalt anstiften. Ich bin nicht sicher, ob dieses Signal wirklich abschreckend genug ist.“

Das Landgericht Detmold wird den Prozess gegen die beiden Hauptangeklagten, die über Jahre mehr als 40 Kinder auf dem Campingplatz an der Landesgrenze zu Niedersachsen hundertfach missbraucht haben sollen, am 1. August fort.

Ideensammlung zum Schutz von Kindern

Die unverbindliche „Ideensammlung“, die der Familienminister vorstellte, enthält eine Fülle von Vorschlägen zur Sensibilisierung und Weiterbildung von Menschen, die engen Kontakt zu Kindern haben, zum Beispiel Erzieher, Lehrer und Jugandamts-Mitarbeiter. Es herrscht offenbar Einigkeit unter den Fachleuten, dass in NRW eine Landes-Fachstelle eingerichtet werden soll, die sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche beschäftigt. Der Aufbau dieser Fachstelle soll im kommenden Jahr beginnen.

Sieben Monate nach dem Bekanntwerden der Missbrauchsfälle von Lügde hat NRW-Familienminister Joachim Stamp (FDP) eine Liste von Handlungsempfehlungen präsentiert, die dazu beitragen sollen, Kinder und Jugendliche besser vor sexualisierter Gewalt zu schützen. Diese rechtlich noch unverbindliche „Ideensammlung“ ist das erste Ergebnis aus vielen Gesprächen zwischen dem Ministerium, Jugendämtern, Kinderschutz-Experten und Landespolitikern. „Zentraler Baustein“ ist laut Stamp eine Landesfachstelle, die im kommenden Jahr aufgebaut werden soll.

Die konkreten Vorschläge

Zwei geplante Maßnahmen stechen aus der insgesamt recht oberflächlich anmutenden „Ideensammlung“ heraus: Erstens die Landesfachstelle, in der sich ab 2020 Experten mit dem Kampf gegen Kindesmissbrauch beschäftigen sollen. Hier finden Menschen, die mit diesem Thema in Berührung kommen, kompetente Ansprechpartner. Die Fachstelle soll auch Info-Material entwickeln sowie Tagungen und Workshops durchführen. Zweitens sollen in NRW „mobile Krisen-Interventionsteams“ gegründet werden mit Spezialisten, die zur Hilfe gerufen werden könne, wenn sich zum Beispiel ein Jugendamt oder eine andere Behörde mit einem Fall überfordert fühlt.

Die vielen guten Absichten

Neuer Beschuldigter im Fall Lügde

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    In Kitas, Schulen, Vereinen und Freizeiteinrichtungen – also an Orten, die Kinder und Jugendliche regelmäßig besuchen – sollen künftig Mindeststandards für den Kinderschutz aufgestellt werden. Die heutigen „Schutzkonzepte“ müssten dringend weiter entwickelt werden. Dazu gehört die entsprechende und verpflichtende Schulung des Personals und Gelegenheiten für Opfer, sich jederzeit an Menschen wenden zu können, die ihnen helfen. So könnten zum Beispiel Heimkinder eine Beschwerdemöglichkeit außerhalb ihrer Einrichtung bekommen. Info-Hotlines oder Apps sind angedacht, die die Kinder nutzen könnten. Angehende Lehrer, Erzieher und Juristen sollten möglichst schon im Studium beziehungsweise in der Ausbildung für Kinderschutz sensibilisiert werden.

    Die Grenzen der Hilfe

    Der Familienminister betont selbst, dass er für die Umsetzung vieler der genannten Vorschläge gar nicht zuständig ist. Das gilt insbesondere für die Jugendämter, dabei stehen gerade die Jugendämter im Fall Lügde besonders in der Kritik. Über die Zahl der Mitarbeiter dort und die Aufsicht über diese Behörden entscheiden die Kommunen, nicht das Land NRW. Jedes Experiment mit der Fachaufsicht sei ein schwerer Eingriff in die Verfassung, erklärte ein Experte des Familienministeriums.

    Die Zuständigkeiten der Jugendämter müssten laut Stamp ebenso bundesrechtlich geklärt werden wie die Frage, wann jemand eine Pflegeerlaubnis für ein Kind erhält und wann nicht. Ein alleinstehender Mann, der in einem Campingwagen wohnt, sollte jedenfalls keine Pflegeerlaubnis bekommen können. Die Liste der Pannen im Fall Lügde ist extrem lang.

    Die Reaktion von SPD und Grünen

    Die Opposition begrüßt die Ideensammlung, die der Minister vorgestellt hat. „Leider fehlt es den Handlungsempfehlungen an Verbindlichkeit“, sagte Josefine Paul, die jugendpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag. Die geplante Einrichtung einer Landesfachstelle halten die Grünen für sinnvoll. „Diese muss aber mit ausreichend Personal und Mitteln ausgestattet sein, um die vielfältigen Aufgaben im Bereich der Prävention, Intervention und Nachsorge bewältigen zu können“, sagte Paul.

    SPD-Familienexperte Dennis Maelzer lobt die geplante Landesfachstelle ebenfalls. Das Land zeige, dass es bereit sei, beim Kinderschutz mehr Verantwortung zu tragen und die 186 Jugendämter besser zu unterstützen. Die SPD setzt sich darüber hinaus für eine Kinderschutz-Kommission ein. Solch eine Experten-Kommission gibt es zum Beispiel schon in Baden-Württemberg.