Essen.. Die Landeselternschaft der Gymnasien betont: Inklusion findet auch an Gymnasien statt, doch behinderte Kinder müssten die Anforderungen erfüllen.
Die Gymnasien in Nordrhein-Westfalen wehren sich gegen den Vorwurf, sich aus der Inklusion zu verabschieden und den gemeinsamen Unterrichten von behinderten und nicht behinderten Kindern allein anderen Schulformen zu überlassen. Allerdings sei es richtig, dass an Gymnasien behinderte Kinder nur „zielgleich“ unterrichtet werden sollten, die also das Abitur auch erreichen könnten.
Jutta Löchner, Vorsitzende der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW, stellt klar: „Selbstverständlich sind Gymnasien nicht von der Inklusion ausgenommen, sondern praktizieren schon seit Jahrzehnten zielgleiche Inklusion überall dort, wo dies möglich ist.“
Zieldifferenzierter Unterricht beispielsweise für Kinder mit geistigem Handicap sollte an Schulformen stattfinden, „deren fachlicher Anspruch am ehesten passt“. Gemeint sind demnach Real-, Haupt- und Gesamtschulen. Damit stützt die Landeselternschaft den Inklusions-Kurs von NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP).
Viele Gymnasien verabschieden sich von der Inklusion
Zuletzt hatten sich zahlreiche Gymnasien wegen Personallücken aus dem gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht behinderten Schülern verabschiedet, so zum Beispiel in Essen, Dortmund und Herne. Möglich macht dies ein Inklusions-Erlass des NRW-Schulministeriums aus dem letzten Jahr, der es Gymnasien freistellt, ob sie zieldifferenzierten Unterricht für behinderte Kinder anbieten. Die Regel sollte zielgleicher Unterricht sein, der zum Schulabschluss führt.
Der Verband der Gesamtschulen (GGG) reagierte mit scharfer Kritik auf die Bevorzugung der Gymnasien. Sie überließen diese aus ihrer Sicht gesamtgesellschaftliche Aufgabe anderen Schulformen und machten sich bei der Inklusion „einen schlanken Fuß“. Der Verband fordert von der Landesregierung die Rücknahme des umstrittenen Erlasses. Rainer Dahlhaus vom GGG-Landesvorstand sieht in der gemeinsamen Verantwortung für die Inklusion „eine Gerechtigkeitsfrage“.
Gymnasial-Eltern weisen Vorwürfe zurück
Die Gymnasial-Eltern hingegen verteidigen die Regelung. „Im Rahmen der Neuausrichtung der Inklusion in NRW beteiligen sich auch die Gymnasien am Projekt Inklusive Bildung. Denn auch Kinder mit körperlichen Behinderungen können selbstverständlich diese Schulform besuchen, wenn ihre kognitiven Fähigkeiten zu den gymnasialen Anforderungen passen“, stellten sie in einem Positionspapier klar.
Heftige Kritik kommt von Bildungsexperten und Verbänden. „Die Landesregierung baut einen Schutzwall um die Gymnasien“, sagte GEW-Landesvorsitzende Dorothea Schäfer unserer Redaktion. „Das ist ein völlig falsches Signal.“ Zieldifferenzierter Unterricht ist eine zusätzliche Aufgabe für die Schulen mit eigenem Lehrplan, erklärte sie. „Warum das ausgerechnet an Gymnasien nicht gehen soll, erschließt sich mir nicht.“
Ähnlich argumentiert Stefan Behlau, Landesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung: „Inklusion geht alle an. Die Gymnasien sollten nicht aussteigen können.“ Das widerspreche dem Prinzip der Chancen- und Bildungsgerechtigkeit.
Gymnasien: Keine „inklusionsfreie Zone“
Die Vorwürfe, Gymnasien seien „inklusionsfreie Zonen“ findet die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW wiederum „diffamierend“. Sämtliche Regelschulen für die Inklusion zu öffnen, sei ein Fehler der rot-grünen Vorgängerregierung gewesen. Dass die Landesregierung angesichts des großen Mangels an Sonderpädagogen und fehlenden geeigneten Räumlichkeiten das Ruder herumgerissen und Förderschulen erhalten habe, sei eine „gute Entscheidung“ gewesen.
Aufgabe der Gymnasien sei es, die Schüler „in einem einheitlichen Bildungsgang von der 5. Klasse zur Hochschulreife“ zu führen. Durch die „rapide gestiegenen“ Übergangsquoten zum Gymnasium sei die Schülerschaft inzwischen so unterschiedlich geworden, „dass die Lehrer dem kaum mehr gerecht werden können“, betonte Vorsitzende Jutta Löchner. Mit anderen Worten: Ein zieldifferenzierter Unterricht würde diese Schulform überfordern.
Kritik: Die Schullandschaft wird gespalten
„Die Idee schulischer Inklusion passt besonders zum Ansatz integrierter Schulen“, ist die Elternschaft überzeugt. Die Differenzierung in einem gegliederten Schulsystem könne die Kinder besser fördern. Löchner: „Nur eine Gemeinschaft, die die Starken fördert und fordert, entwickelt die Kräfte, die sie braucht, um die Schwachen zu unterstützen.“
Dass diese dabei unter die Räder kommen könnten, befürchtet hingegen ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Behindertenverbänden und Schülern, das der Landesregierung mangelndes Engagement bei der Inklusion vorwirft. Der gemeinsame Unterricht funktioniere heute noch schlechter als vor der Regierungsübernahme von Schwarz-Gelb. Es fehle Personal, noch immer seien die Klassen zu groß.
Bernd Kochanek, Sprecher des Verbands „Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen“, warf der Schulministerin kürzlich im Landtag sogar eine „bewusste Täuschung der Öffentlichkeit“ vor. Besonders kritisierte er, dass Gymnasien per Schulkonferenzbeschluss aus der Inklusion aussteigen können. Das spalte die Schullandschaft und führe zu weiteren Belastungen für die anderen weiterführenden Schulformen.
>>>> Der Inklusions-Erlass
Anfang Juli 2018 hat das Landeskabinett die „Eckpunkte zur Neuausrichtung der Inklusion in der Schule“ beschlossen. Danach soll der Inklusionsunterricht auf so genannte „Schwerpunktschulen“ konzentriert werden. Diese Schulen orientieren sich an der Formel „25-3-1,5“. Das heißt: Die Eingangsklassen haben im Schnitt 25 Schüler, darunter drei mit Förderbedarf. Für jede dieser Klassen bekommt die Schule eine halbe zusätzliche Stelle.
Das laufende Schuljahr dient dem „Übergang“, ab dem Schuljahr 2019/20 dürfen Haupt-, Real-, Gesamt-, Gemeinschafts- und Sekundarschulen nur dann inklusiven Unterricht anbieten, wenn sie feste Qualitätsstandards erfüllen: genügend Sonderpädagogen, Fortbildung der Lehrer, geeignete Räume, schlüssiges Inklusionskonzept.