Gelsenkirchen. . Tim Hertling ist Inklusionsschüler an einer Gesamtschule in Gelsenkirchen. Dort lernen Kinder mit und ohne Beeinträchtigungen täglich zusammen.
Die Konzentration in der 9f steigt. Tim Hertling sitzt ausgerüstet mit Geodreieck und Bleistift über seinem Collegeblock. Ein paar seiner Mitschüler neben ihm reden noch über die Aufgaben, doch Tim ist schon so fokussiert, dass er es gar nicht bemerkt. Zwischendurch wirft er Blicke in sein Mathebuch, zeichnet dann vorsichtig den abgebildeten Körper nach, den er ausschneiden und zusammenkleben soll. Ein paar Minuten später hat er den Quader zusammengefügt. Er blickt zufrieden auf das Gebilde, bevor er sich der nächsten Aufgabe zur Flächenberechnung zuwendet: „Weiter geht’s.“
Der 16-Jährige besucht die Evangelische Gesamtschule in Gelsenkirchen-Bismarck (EGG). Er hat eine Lernschwäche und einen Sprachfehler, im Schulsystem ist er dem Förderschwerpunkt „Lernen“ zugeordnet. Schon mit vier Jahren fing Tim an, stark zu stottern. Bereits im Kindergarten begleitete ihn ein Inklusionshelfer, später besuchte er eine Förder-Grundschule mit dem Schwerpunkt Sprache. Seitdem ist nicht mehr viel von seiner Beeinträchtigung zu spüren, er kann die Regelschule ohne Probleme besuchen.
EGG arbeitet seit 2013 mit inklusiven Schülern
Bis heute braucht er durch seine Lernschwäche länger, um die Inhalte des Lehrplans zu verstehen, muss mehr lernen und Sachverhalte immer wieder reflektieren. Für seinen Hauptschulabschluss muss er ein Schuljahr wiederholen, um den erforderlichen Standard zu erreichen. Insgesamt sechs von 24 Schülern in Tims Klasse haben Beeinträchtigungen oder Behinderungen und werden teils individuell unterrichtet. Experten nennen dieses pädagogische System „zieldifferent“. „Eigentlich fällt das gar nicht auf“, sagt Tim. „Ich habe mich nie anders behandelt gefühlt.“
Die Gesamtschule hat sich schon früh auf Schüler wie Tim eingestellt. Seit 2013 arbeiten dort Sonderpädagogen, die spezielle Konzepte erarbeiten, um zieldifferente Kinder in der Schule zu integrieren. Damit ist die EGG so erfolgreich, dass sie in diesem Jahr für den Deutschen Schulpreis kandidiert.
Die ersten Schulen steigen aus dem System aus
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Doch das inklusive Schulsystem steht zurzeit wieder zur Diskussion. Die schwarz-gelbe Landesregierung plant, die Förderschulen wieder mehr zu unterstützen. Das gemeinsame Lernen an Regelschulen läuft dann nur noch freiwillig an sogenannten „Schwerpunktschulen“ und mit hohen Auflagen. Die Konsequenz zeigt sich bereits: Die ersten Schulen in NRW sind aus dem System ausgestiegen, da sie die neuen Standards nicht erfüllen können.
In der Mathestunde lernen die Jugendlichen mit der Hilfe sogenannter Lernbüros; das sind Aufgabenzettel, die teils individualisiert werden. Jeder Schüler bekommt Aufgaben, die seinem Leistungsstand entsprechen – so lernen sie zwar zusammen in einem Raum, aber doch einzeln. Teilweise werden die Schüler aber auch räumlich getrennt, um die Gruppen individueller zu fördern.
Schüler bekommen individuelle Aufgaben
Sie arbeiten mit dem Sonderpädagogen Stefan Wewel zusammen. Er ist für den neunten Jahrgang zuständig und bei vielen Unterrichtsfächern zusätzlich zum Fachlehrer anwesend, geht herum und gibt Hilfestellungen – jedem Schüler, der sie braucht. „Gerade in Fächern wie Mathematik ist eine gute Vorbereitung wichtig. Wir überlegen uns genau, bei welchen Schülern wir Aufgaben anpassen oder verändern müssen.“
Kai und Jan sind Tims beste Freunde, die Drei kennen sich schon seit der fünften Klasse. Beide werden ebenfalls zieldifferent unterrichtet. Doch die ganze Klasse versteht sich untereinander; meistens laufen alle gemeinsam zur nächsten Unterrichtsstunde oder essen zusammen in der Mensa. Die Pausen verbringen sie oft im Klassenraum. Dann quatschen sie und schauen verbotenerweise aufs Handy: „Um draußen zu spielen, dafür sind wir zu alt.“
Inklusion wird ab der fünften Klasse thematisiert
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„Tim ist extrem gut integriert, so wie eigentlich jeder zieldifferente Schüler hier“, erklärt Stefan Wewel. „Schon ab der fünften Klasse wird an unserer Schule Inklusion thematisiert und so normal wie möglich damit umgegangen. Die Schüler profitieren enorm vom gemeinsamen Lernen, da die nicht zieldifferenten Kinder oft Vorbilder sind und motivieren. Nur wenn alle mit anpacken, kann Inklusion funktionieren.“
Tim ist in seinem Schulalltag selten auf Hilfe angewiesen. Er wohnt nur fünf Minuten Laufweg von der Schule entfernt, geht die Strecke täglich allein hin und zurück. Die Schule kennt er in- und auswendig, findet es toll, dass das Gebäude so bunt und einzigartig ist
Tim engagiert sich auch ehrenamtlich
Neben seinen normalen Fächern hat er zusätzlich Leistungspraktischen Unterricht (LPU): Berichte schreiben, Fahrpläne lesen und mit Bus und Bahn fahren wird dort geübt. Allein gelassen oder abgehängt fühlt er sich nie, sagt er. Sein anstehendes Jahrespraktikum wird Tim in einem Altenheim absolvieren. Darauf freut er sich schon, denn da kann er anderen Menschen helfen.
Seit zwei Jahren schon arbeitet er dreimal die Woche ehrenamtlich im Bismarcker Jugendzentrum „Die Falken“. An den übrigen Abenden macht er Taekwondo. „Abends gucke ich dann einen Film oder lese Krimis, am liebsten ‚Die drei Fragezeichen‘.“
Der Hauptschulabschluss ist sein größter Traum
Tim möchte später Pfleger werden, ob im Altenheim oder im Kindergarten ist ihm eigentlich egal: „Hauptsache im sozialen Bereich. Ich arbeite so gern mit Menschen zusammen.“ Den Hauptschulabschluss zu bekommen, ist deshalb sein größter Traum: „Auch wenn ich länger brauche als die anderen, weiß ich, dass ich es schaffen kann.“
Am Ende der Mathestunde gilt es dann, die Ergebnisse der Aufgaben miteinander zu vergleichen. Trotz seines leichten Stotterns hat Tim die Hand als erstes oben und trägt selbstbewusst seine Lösung vor. Als Stefan Wewel ihm Recht gibt, strahlt er zufrieden. Wieder eine Stunde gearbeitet, wieder etwas gelernt.