Essen. . Die Zahl der Abiturienten steigt – aber auch die Quote jener, die durchfallen. Hat sich die Qualität des Abis verändert? Wir haben nachgefragt.
Das Abitur hat sich verändert und das nicht erst seit der Einführung des Zentralabiturs in Nordrhein-Westfalen. Heute ist der höchste Schulabschluss nicht nur Voraussetzung, um ein Studium aufzunehmen. Auch immer mehr Ausbildungsbetriebe legen Wert auf gute Zeugnisse. Welchen Stellenwert die allgemeine Hochschulreife hat, zeigt die stetig steigende Zahl an Abiturienten im Land.
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Doch wächst dadurch auch der Druck auf die Jugendlichen? Oder wie lässt sich erklären, dass auch die Zahl der Schüler, die an den Prüfungen scheitern, wächst? Wir haben mit drei Abiturienten aus drei Jahrzehnten über ihre Schulzeit gesprochen.
Abi 1987: Stricken statt pauken
Heike Leitsch (51) hat 1987 am Amplonius-Gymnasium in Rheinberg ihr Abitur mit der Note 2,7 gemacht. Ihre Leistungskurse waren Deutsch und Biologie. Heute ist die gelernte Speditionskauffrau Mutter eines 22-jährigen Sohnes. Sie vergleicht die beiden Abschlüsse.
Wie lief die Oberstufe für Sie?
Heike Leitsch: Total entspannt. Damals durfte man noch im Klassenraum sitzen und stricken. Im Leistungskurs wurde ein Bier getrunken oder geraucht. Und man war jedes Wochenende auf irgendeiner Demonstration.
Gab es trotzdem Situationen mit Druck, zum Beispiel vor den Prüfungen?
Leitsch: Nein, es war alles total gechillt. Ich habe nie gelernt. Meine Mutter konnte dann tagelang nicht schlafen, weil ich vor den Prüfungen nichts gemacht habe.
Wie wurden die Schüler damals auf die Prüfungen vorbereitet?
Leitsch: Damals haben die Lehrer selbst die Prüfungen erstellt. Wir hatten zum Beispiel zwei Biokurse und die beiden Lehrerinnen haben die Klausuren gestellt. Da kamen genau die Sachen dran, die wir vorher gemacht hatten.
Wie war damals das Verhältnis der Schüler zu den Lehrern?
Leitsch: Wir hatten ganz viele alte Lehrer. Die waren total cool. Bei meinem Sohn hatten die Lehrer zum Teil große Probleme, sich durchzusetzen. Einmal musste die Mutter eines Schülers kommen und sich im Unterricht hinter ihn stellen, damit er nicht mit dem Stuhl kippelt. Das gab es früher nicht.
Heute machen viele Schüler sehr gute Abschlüssen. War das Abitur früher schwerer?
Leitsch: Ich hatte damals einen Schnitt von 2,7 und das war eines der besten Abiture. Von 180 hatten bei uns nur zwei eine Eins und das waren die Töchter des Schulleiters. Wenn ich mein Abi mit dem von meinem Sohn vergleiche, der 2016 Abitur gemacht hat, finde ich, dass es heute einfacher ist. Früher musste man mehr auswendig lernen. Zum Beispiel in Chemie das gesamte Periodensystem der Elemente. Das braucht man heute gar nicht mehr.
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Und trotzdem fallen immer mehr durch. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Leitsch: Heute sagen alle, wenn sie mal zwei Stunden etwas machen müssen, sie haben Stress. Wenn wir früher mal sechs Stunden Hausaufgaben für den Leistungskurs machen musste, dann haben wir das gemacht. Aber deshalb hatte man keinen Stress. Es gibt aber auch viele, die von zu Hause aus Abi machen müssen und total unglücklich sind.
Also glauben Sie, dass der Druck, einen guten Abschluss zu machen, gewachsen ist?
Wir waren eine Generation, die sich keine Gedanken über morgen gemacht hat. Aber heute sollen alle Abitur machen. Früher waren auf der Haupt- und Realschule fünf mal so viele Schüler wie auf dem Gymnasium, heute hat das Gymnasium fünf Anbauten. Dafür fehlen dann nachher ganz normale Elektriker, weil alle meinen, sie müssten studieren.
Abi 2000: Ohne Smartphone und Internet
Nils Reddig (38) hat 2000 am Goethe-Gymnasium in Bochum sein Abitur mit der Note 1,6 gemacht. Seine Leistungskurse waren Deutsch und Pädagogik. Heute ist er Leiter einer Werbeagentur.
Wie lief die Oberstufe für Sie?
Nils Reddig: Gut. Auch wenn – oder vielleicht gerade weil – es damals kaum Internet und noch keine Smartphones gab und man sich zum Lernen noch in die Bibliothek gesetzt hat.
Wie sind Sie mit Leistungsdruck umgegangen?
Ich habe gemerkt, dass es für mich die beste Variante war, immer in der Schule mitzuarbeiten. Richtig lernen brauchte ich deshalb eigentlich nie.
Wie wurden die Schüler damals auf die Prüfungen vorbereitet?
Unsere Lehrer haben uns im Vorfeld Bereiche genannt, die nicht geprüft werden würden oder sie haben uns eine Anzahl von Themen genannt, unter denen später die Prüfungsfragen waren.
Wie war das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern?
Jeder hatte Lehrer, mit denen er gut klar kam und welche, bei denen die Chemie weniger stimmte. Das war auch bei der Fächerwahl entscheidend. Ich hatte aber immer eine ganz gute Combo.
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Heute machen viele Schüler sehr gute Abschlüsse. War das Abitur früher schwerer?
Wenn man überlegt, welchen Stellenwert das Abitur vor 70 oder 80 Jahren hatte und dass es im Vergleich dazu heute Voraussetzung für fast jeden Job ist, dann stellt sich eher die Frage der Wertigkeit. Ich glaube auch, dass die Schwierigkeit trotz Zentralabi immer noch sehr unterschiedlich ist, weil es einfach so viele Einfluss-Faktoren gibt. Generell finde ich das Zentralabi aber gut, denn so schafft man zumindest ein wenig Vergleichbarkeit. Bei mir hieß es früher oft, dass ich gute Noten hatte, weil es an meiner Schule leichter sei.
In den vergangenen Jahren sind immer mehr durchs Abi gefallen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Weil das Abitur für so viele Berufe der neue Standard geworden ist und es deshalb alle versuchen – auch diejenigen, die vielleicht in praktischen Unterrichtsformen besser aufgehoben wären. Die fallen dann durchs System und sind schnell auf der Verliererseite.
Also glauben Sie, dass der Druck, einen guten Abschluss zu machen, gewachsen ist?
Ich glaube auch, das Hauptproblem heute ist der NC-Wahn in Deutschland. Dass davon Schicksale abhängen, finde ich einfach falsch. Ich kann nur sagen: Macht nicht das, wovon ihr euch einen guten Job erhofft, sondern das, was euch Freude macht!
Abi 2016: Viel Fleißarbeit
Ivan Mijocevic (21) hat sein Abitur 2016 am Heinrich-Heine-Gymnasium in Oberhausen mit der Note 1,4 gemacht. Er kam erst 2006 nach Deutschland und besuchte zunächst eine internationale Vorbereitungsklasse. Seine Leistungskursfächer waren Englisch und Mathematik. Jetzt studiert er Maschinenbau.
Wie lief die Oberstufe für Sie?
Ivan Mijocevic: Das war die entspannteste Zeit meiner gesamten Schullaufbahn.
Gab es trotzdem Situationen, in denen Sie Druck hatten?
Die Woche vor der Mathe-Abi-Prüfung. Ich war zwar in Mathe ein guter Schüler, aber ich empfand das immer als ein Fach, in dem man besonders herausgefordert wird. Eine Woche vor der Klausur habe ich deshalb immer wieder Aufgaben durchgerechnet.
Wie haben die Lehrer Sie auf die Prüfungen beim Zentralabitur vorbereitet?
Unsere Lehrer haben uns wirklich maßgeschneiderte Aufgaben auf dem Niveau der Prüfung gegeben. Ich glaube deshalb nicht, dass ich besser oder schlechter gewesen wäre, wenn die Lehrer selbst die Aufgaben gestellt hätten.
Wie war das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern insgesamt?
Ich kam immer gut mit den Lehrern klar. Das war aber nicht bei allen so. Aber ich glaube, das lag daran, dass der Lehrer gemerkt hat, dass von der anderen Seite nicht viel kam. Ich finde, ein Schüler muss seine Arbeit genauso machen wie ein Lehrer.
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Heute machen viele Schüler sehr gute Abschlüsse. Glauben Sie, das Abitur ist leichter geworden?
Ich glaube, es ist fair. Aber das wird sich erst in einigen Jahren zeigen, wenn die Schüler auf den Arbeitsmarkt kommen. Dann zeigt sich, ob sie wirklich etwas können.
Auf der anderen Seite fallen auch immer mehr Schüler durch das Abi. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Eltern glauben, dass es peinlich ist, wenn ihr Kind kein Abi hat und machen dann viel Druck. Dabei sind manche vielleicht einfach nicht dafür gemacht oder interessieren sich nicht dafür. Generell würde ich aber sagen, das Abi viel Fleißarbeit ist, also einfach mal hinsetzen und lernen!
Hatten Sie Druck, einen guten Abschluss zu machen?
Ich habe mir von Anfang an klare Ziele gesetzt, weil ich wusste, dass ich Maschinenbau studieren möchte. Viele fangen aber an, ein Haus ohne Fundament zu bauen. Die lehnen sich dann zwei Jahre zurück und merken erst bei den Vorabi-Prüfungen, dass es schwerer ist, als sie dachten.