Düsseldorf. . Jahrelang wurden in Lügde Kinder vergewaltigt. Bei der Arbeit der Polizei und der Jugendämter kam es zu Totalversagen. Eine Chronik des Falls.

Seit möglicherweise 17 Jahren wurden auf einem Campingplatz im lippischen Lügde Kinder sexuell missbraucht: 27 Mädchen und drei Jungen im Alter von vier bis 13 Jahren in mehr als 1000 Fällen. Zu den Opfern gehört außerdem ein 19-jähriger geistig behinderter junger Mann. Der Skandal nimmt von Woche zu Woche größere Dimensionen an. Hier ein Überblick über wichtige Ereignisse und Pannen.

Hauptverdächtiger fiel schon 2002 auf

2002: Der Hauptbeschuldigte, ein heute 56-jähriger Dauercamper, wird 2002 erstmals in einer Übersicht der Polizei Lippe mit Hinweisen auf Sexualdelikte erwähnt. Er soll ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt haben. Konsequenzen: offenbar keine. Der Eintrag wird Ende Februar 2019 von Sonderermittlern entdeckt. Schon seit 1999 führt die Polizei Lippe eine tabellarische Übersicht mit Hinweisen auf Sexualdelikte.

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27.02.2019, Nordrhein-Westfalen, Lügde: Ein Polizeibeamter steht an einem Polizeiauto vor der abgesperrten Parzelle des mutmaßlichen Täters auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde. Nach dem massenhaften sexuellen Missbrauch auf einem Campingplatz bei Lüdge im Kreis Lippe hat die Polizei am Mittwoch den Platz erneut nach Hinweisen durchsucht. Spezialisten durchkämmten dabei den Tatort und sicherten Spuren, wie die Polizei Bielefeld am Nachmittag der Deutschen Presse-Agentur sagte. Foto: Guido Kirchner/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Von Christopher Onkelbach und Matthias Korfmann

2008: Unter dem Datum 28. 1. 2008 ist in der Tabelle der Polizei Lippe ein weiterer Verdacht auf Kindesmissbrauch durch den Hauptbeschuldigten eingetragen.

2016: Ein Vater von zwei minderjährigen Töchtern informiert Polizei Lippe, Jugendamt und Kinderschutzbund, dass sich der Beschuldigte auf einem Fest seinen Kindern unsittlich genähert habe. Die Polizei belässt die Nachforschungen beim Jugendamt. Im November meldet sich eine Mitarbeiterin des Jobcenters Blomberg bei der Polizei. Sie berichtet, dass der Hauptbeschuldigte ihr gegenüber einen Kindesmissbrauch angedeutet hat. Die Polizei gibt den Fall ans Jugendamt weiter.

Mutter von Neunjähriger erstattet im Oktober 2018 Anzeige

20.10.2018: Die Mutter einer Neunjährigen aus Bad Pyrmont/Niedersachsen erstattet Anzeige gegen den Hauptbeschuldigten. Ihre Tochter hatte gesagt, mehrfach von dem Mann vergewaltigt worden zu sein. Auch die sechsjährige Pflegetochter des Beschuldigten, die auf dem Campingplatz wohnte, soll Opfer sein, erzählte das Mädchen. Die Polizei in Bad Pyrmont reicht die Akte an das Kommissariat für Sexualdelikte in Lippe weiter.

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13.11.2018: Die kleine Pflegetochter des Beschuldigten wird durch das Jugendamt Blomberg in Obhut genommen.

6.12.2018: Untersuchungshaft für den Beschuldigten und erste Sicherstellung von Beweismitteln, insgesamt 15 Terabyte Daten.

13.12.2018: Eine WE-Meldung („Wichtiges Ereignis“) zu den Fällen erreicht das NRW-Innenministerium. Die Kreispolizei Lippe wird zum Bericht aufgefordert.

20.12.2018: Durchsuchung der Jugendämter Lippe und Hameln-Pyrmont durch die Polizei. Zahlreiche Daten werden sichergestellt.

Polizei Lippe will keine Hilfe bei Ermittlungen

10.1.2019: Der Chef der Polizei Lippe informiert das Polizeipräsidium Bielefeld über die komplizierten Ermittlungen, verzichtet aber auf einen Hilferuf. Die Polizei Lippe möchte weiter allein ermitteln.

11.1.2019: Zwei weitere Tatverdächtige werden festgenommen und kommen in U-Haft: Ein 33-Jähriger aus Steinheim soll, wie der Hauptbeschuldigte, Kinder missbraucht und gefilmt haben. Ein 48-Jähriger aus Stade in Niedersachsen soll den Missbrauch per Video beobachtet und Filme bestellt haben.

30.1.2019: Die Polizei Lippe berichtet in einer Pressekonferenz erstmals, dass es in Lügde um mehr als 1000 Einzeltaten geht. Die Ermittlungsführung bekommt am Tag danach das Polizeipräsidium Bielefeld. Die Staatsanwaltschaft Detmold leitet Verfahren gegen eine Polizistin aus Lippe und einen pensionierten Polizisten wegen des Verdacht auf Strafvereitelung im Amt ein.

155 CDs und DVDs aus dem Fall verschwunden

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11.2.2019: Die Polizei Lippe informiert die Polizei in Bielefeld darüber, dass Beweismittel aus dem Fall (Asservate) verschwunden sind: 155 CDs und DVDs. Ein Kommissaranwärter hatte diese CDs untersuchen müssen. Sie wurden zuletzt am 13. Dezember gesehen. Erst am 30. Januar wurde der Verlust festgestellt. Der Raum, in dem die Asservate lagerten, war völlig unzureichend gesichert, wie Ermittler feststellen. Der Polizeianwärter kann sich nicht erinnern, wer ihm den Auftrag zur Sichtung des Materials gegeben hat. Trotz aufwändiger Suche sind die CDs bis heute verschwunden. Selbst wenn sie wieder auftauchten, könnten sie – wegen möglicher Manipulation – nicht unbedingt als Beweismittel verwendet werden.

15.2.2019: NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) erfährt von den verschwundenen Datenträgern – knapp zwei Wochen, nachdem der Verlust bemerkt und zwei Monate, nachdem die CDs zuletzt gesehen wurden. Der Minister informiert die Obleute des Landtags-Innenausschusses, schickt fünf Sonderermittler des LKA nach Lippe und geht am 22. Februar mit der Nachricht an die Öffentlichkeit.

22.2.2019: Spezialisten des LKA und der Polizei Bielefeld durchsuchen noch einmal den Wohnwagen des Hauptbeschuldigten und eine Wohnung. Es handelt sich um die insgesamt fünfte Suche dort nach Beweismaterial. Die Polizisten werden tatsächlich fündig, stellen einen Computer, eine Festplatte und 131 CDs sicher. Das Material war nicht versteckt, dennoch wurde es zuvor nicht sichergestellt. Der Lippische Kripo-Chef Wolfgang Pader wird vom Dienst suspendiert.

Über Monate wurde offenbar schlampig gearbeitet

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26.2.2019: Der Chef der Polizei Lippe, Bernd Stienkemeier, muss wegen schwerer Pannen seinen Stuhl räumen. NRW-Innenminister Reul und Sonderermittler Ingo Wünsch informieren den Innenausschuss des Landtags. Sie präsentieren das Bild einer Polizeibehörde Lippe, die über Monate, vielleicht sogar Jahre schlampig gearbeitet hat. „Es ist noch schlimmer, als ich befürchtet habe“, sagt Reul. Ermittelt wird nun auch gegen einen 16-Jährigen, der kinderpornografisches Material aus Lügde besessen haben soll. Insgesamt wird derzeit gegen sieben Männer wegen Verdachts auf sexuellen Missbrauch ermittelt. Drei von ihnen sitzen in Haft. 14 Behördenmitarbeiter müssen sich wegen des Falles Lügde verantworten: Acht waren für Jugendämter tätig, zwei sind Polizisten, die anderen gehören Wohlfahrtsverbänden an.

Es gibt neue Hinweise, dass ein weiterer Dauercamper in Lügde 2018 eine 15-Jährige vergewaltigt haben soll. Eine Anzeige wurde erstattet, die Ermittlungen wurden eingestellt.

Landtag untersucht Missbrauchsskandal von Lügde

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