Diyarbakir. . Die Verteidigung der syrischen Kurdenstadt Kobane, wo seit dem Wochenende auch Peschmerga aus dem Nordirak gegen die Belagerer vom IS kämpfen, wird zur Entscheidungsschlacht im Ringen der Kurden um Selbstverwaltung. Die Kurden selbst sprechen schon von ihrem „Stalingrad“.

Auf dem Platz vor der Großen Moschee in der Altstadt von Diyarbakir sitzen die Männer um kleine Tische und trinken Tee. Die Gespräche kreisen um Alltagsprobleme: Die schwierige Wirtschaftslage, die hier, im kurdisch besiedelten Südosten, nie gut war, sich aber jetzt durch die Kriege im Irak und in Syrien weiter verschlechtert; die hohe Arbeitslosigkeit, die durch den Zustrom Hunderttausender syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge in den vergangenen drei Jahren immer weiter angestiegen ist. Aber vor allem sind die Menschen mit ihren Gedanken in Kobane. Die Kurdenstadt, die seit dem 16. September von der Terrormiliz des „Islamischen Staats“ (IS) belagert wird, liegt 200 Kilometer entfern im Südwesten. Aber hier, in Diyarbakir, scheint sie ganz nah.

„Wenn Kobane fällt, gibt es eine Rebellion in der Türkei“, sagt der Kurde Ibrahim. Fast alle der 55 000 Einwohner von Kobane haben die Stadt verlassen. Etwa 2000 Kämpfer der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) versuchen, die Belagerer aufzuhalten. Die YPG gehört zur Partei der Demokratischen Union (PYD), dem syrischen Ableger der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Seit dem Wochenende wird sie sie von 150 Kämpfern der nordirakischen Peschmerga unterstützt.

„Ich habe 15 Kinder. Wenn nötig, würde ich sie alle opfern in diesem Kampf.“

Offen bleibt aber, was die kleine Gruppe von Peschmerga gegen die Übermacht des IS ausrichten kann. Es gab Zeiten, da kämpften die PKK und die Peschmerga gegeneinander. Jetzt stellen sie sich gemeinsam dem IS entgegen. „Wir alle sind Kurden, wir sind eins“, sagt Ibrahim. „Wenn die türkische Regierung die Grenze endlich öffnen würde, gingen wir alle nach Kobane, um zu kämpfen. Dann gäbe es keine Männer mehr in Diyarbakir“, glaubt Ibrahim. „Ich habe 15 Kinder“, sagt ein anderer Mann. „Wenn nötig, würde ich sie alle opfern in diesem Kampf.“

Auf die Regierung in Ankara und Präsident Recep Tayyip Erdogan ist man hier nicht gut zu sprechen: „Der IS ermordet Muslime und zerstört Moscheen“, klagt der alte Abdullah. „Warum sieht Erdogan, der von sich sagt, er sei ein Moslem, untätig zu? Warum sind es jetzt Christen, die USA und die Europäer, die gegen den IS kämpfen?“ Die meisten Kurden werfen Erdogan ein doppeltes Spiel vor: Einerseits verspreche er eine friedliche Lösung der Kurdenfrage, andererseits aber hoffe er insgeheim darauf, dass Kobane an den IS fällt, um die Selbstbestimmungsbestrebungen der syrischen Kurden abzuwürgen und damit auch die eigene kurdische Minderheit im Zaum zu halten.

Zehntausende in Diyarbakir und Istanbul demonstrieren Solidarität

Sedat ist Mitte 50, er hat lange in Deutschland gelebt. Vor zwei Jahren kehrte er nach Diyarbakir zurück, um das Erbe seines verstorbenen Vaters anzutreten – und weil er auf eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts hoffte. „Aber der Friedensprozess ist an einem toten Punkt“, sagt Sedat. „Der Kampf um Kobane ist unsere Schicksalsschlacht, Kobane ist das Stalingrad der Kurden“, sagt er. „Wenn Kobane fällt, gibt es Krieg in der Türkei.“

Am Wochenende demonstrierten in Diyarbakir und Istanbul Zehntausende ihre Solidarität mit Kobane. Nachdem bei Massenprotesten vergangenen Monat über 40 Menschen ums Leben kamen, verliefen die Demonstrationen diesmal friedlich. Aber die Stimmung bleibt angespannt. Der Überlebenskampf der Kurden in Kobane wühlt die Menschen auf. Abdullah ist längst im Rentenalter, er stützt sich auf einen Krückstock. Aber selbst er möchte nach Kobane: „Gebt mir ein Gewehr“, ruft er, „ich will kämpfen!“