Kairo. . Die blutrünstigen Gotteskrieger der IS-Terroristen lassen die politischen Führer der arabischen Welt erzittern. Sie haben keine Antwort auf den Vormarsch dieser Schlächter. Die ideologische Verwandtschaft zwischen dem Islam und dem Verhaltenskodex der IS führt zudem zur Legitimationskrise des Islam.

Der Arabische Frühling wirkt inzwischen wie ein Traum aus fernen Tagen. So gut wie alle Hoffnungen sind zerstoben, viele Protagonisten sitzen im Gefängnis. Stattdessen erfährt der Orient mit der blutigen Expansion der Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) eine Zäsur ganz anderer Art, die Züge einer historischen Kernschmelze trägt.

Für die chronisch marode arabische Staatlichkeit schlägt die Stunde der Wahrheit. Jeder denkbaren Koalition arabischer Potentaten fehlt die Kapazität, mit dem IS politisch und militärisch fertig zu werden. Zugleich haben die blutrünstigen „Gotteskrieger“ im Wechselspiel mit dem hilflosen Formel-Islam der geistlichen Führung der Region die tiefste Legitimationskrise ihrer Religion in der modernen Geschichte ausgelöst.

Millionen Muslime in Nahost tun so, als ginge sie der IS nichts an

Der Chefgelehrte von Kairos Al-Azhar-Universität, die sich gerne im Ruf der wichtigsten Lehranstalt des sunnitischen Islam sonnt, nannte IS kürzlich eine „zionistische Verschwörung“, die die arabische Welt in die Knie zwingen soll. Der Obermufti von Saudi-Arabien brauchte mehr als zwei Monate, bis er zu den islamistischen Barbaren überhaupt den Mund aufmachte. Auch die ideologische Verwandtschaft zwischen dem Islam, wie er von Saudi-Arabiens salafistischen Weltmissionaren ausgelegt wird, sowie dem Verhaltenskodex der IS-Schlächter ist nach wie vor ein großes Tabu.

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Kein Wunder, dass heute niemand mehr überzeugend erklären kann, wie das moralische Fundament des Islam eigentlich aussieht. Der sunnitische Islam ist zu einer Religion geworden, die ihre Kernbotschaft nicht mehr klar formulieren und vermitteln kann. Traditionelle Theologie und Ausbildung sind den modernen Herausforderungen nicht gewachsen. Das Bildungsniveau arabischer Prediger ist miserabel. Und Millionen von Muslimen in Nahost tun mit Verweis auf die Pluralität ihrer Religion so, als wenn sie das alles nichts anginge.

Rückschlag in Ägypten

Hand in Hand mit der tiefen religiösen Krise geht die großflächige Erosion arabischer Staatspraxis. Die eine Hälfte der 22 Nationen besteht mittlerweile aus gescheiterten Staaten, die andere Hälfte ist höchst autoritär. In ihrem Kreis hat sich bisher keine einzige funktionierende Demokratie herausgebildet.

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Vor allem der Putsch im arabischen Schwergewicht Ägypten im Sommer 2013 war ein dramatischer Rückschlag für alle demokratischen Ambitionen. Ägypten ist zurückgekippt in den gewohnten Polizeistaat – noch hemmungsloser, zwanghafter und anarchischer als der jahrzehntelange Mubarak-Vorgänger. Gleichzeitig sind die 350 Millionen Araber – zieht man das frei Haus sprudelnde Rohöl einmal ab – im Weltvergleich wirtschaftlich wenig produktiv, wissenschaftlich abgehängt und ineffizient. Ohne ihr ölfinanziertes Migrantenheer wäre die Golfregion immer noch ein unwirtliches Entwicklungsgebiet.

Die arabischen Mittelmeerstaaten dagegen werden zerfressen von Korruption, politischer Inkompetenz und ihren hemmungslos ausufernden Bürokratien. Nirgendwo aber ist ein tragfähiges Gewebe zivilgesellschaftlicher Kräfte gewachsen, was das Blatt wieder zum Besseren wenden könnte.

Und so haben weder die kraftlosen islamischen Chefprediger noch die arabischen Staatslenker die Kraft, den von ihnen mitfabrizierten IS-Spuk rasch und definitiv zu beenden. Die regionale Koalition der angeblich Willigen zeigt mit dem Finger Richtung Westen und seiner Kampf-Jets. Keine der arabischen Machteliten hat die Absicht, mehr zu tun, als bombastische Fensterreden zu halten. Dem IS könnte das erlauben, sich auf Jahre oder Jahrzehnte im Herzen der Region festzusetzen. Und die orientalische Kernschmelze wird sich immer weiter hineinfressen.